Der Torso. Elisabeth Langgässer

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Der Torso - Elisabeth Langgässer

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und den Ringen, die ab und zu winzige Feuerfunken und zornige kleine Blitze entließen, die wie aus dem Innern der Erde zurückgeschleudert waren. Sehr spät erst, mit Sonnenuntergang, kam die kreisende Büste zur Ruhe. Sie stand jetzt, gemessen an einer Welt, die sie umwandelt hatte, wie zu dem Pol der Nadir. Es wurde kühl, es wurde sehr dunkel . . . die Farben vergingen und auch die Formen — und endlich wurde es Nacht.

      Man schrieb den 22. Juni des Jahres 41.

      SAISONBEGINN

      Die arbeiter kamen mit ihrem schild und einem hölzernen Pfosten, auf den es genagelt werden sollte, zu dem Eingang der Ortschaft, die hoch in den Bergen an der letzten Paßkehre lag. Es war ein heißer Spätfrühlingstag, die Schneegrenze hatte sich schon hinauf zu den Gletscherwänden gezogen. Überall standen die Wiesen wieder in Saft und Kraft; die Wucherblume verschwendete sich, der Löwenzahn strotzte und blähte sein Haupt über den milchigen Stengeln; Trollblumen, welche wie eingefettet mit gelber Sahne waren, platzten vor Glück, und in strahlenden Tümpeln kleinblütiger Enziane spiegelte sich ein Himmel von unwahrscheinlichem Blau. Auch die Häuser und Gasthöfe waren wie neu: ihre Fensterläden frisch angestrichen, die Schindeldächer gut ausgebessert, die Scherenzäune ergänzt. Ein Atemzug noch: dann würden die Fremden, die Sommergäste kommen — die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren großen Wagen . . . Röhr und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und Glas. Das Geld würde anrollen. Alles war darauf vorbereitet. Ein Schild kam zum andern, die Haarnadelkurve zu dem Totenkopf, Kilometerschilder und Schilder für Fußgänger: Zwei Minuten zum Café Alpenrose. An der Stelle, wo die Männer den Pfosten in die Erde einrammen wollten, stand ein Holzkreuz, über dem Kopf des Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: J. N. R. J. — die Enttäuschung darüber, daß es im Grund hätte heißen sollen: er behauptet nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Männner, welche den Pfosten, das Schild und die große Schaufel, um den Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern trugen, setzten alles unter dem Wegekreuz ab; der Dritte stellte den Werkzeugkasten, Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus.

      Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Paßweg betraten, besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein, das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellte sich aber heraus, daß der Pfosten dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen — eine Sache, die sich von selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, daß diese Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, mußte das Schild wieder näherrücken — am besten gerade dem Kreuz gegenüber, so daß Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen.

      Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegekreuz senkrecht stehen; doch zeigte es sich, daß die uralte Buche, welche gerade hier ihre Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt hätte.

      Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibehalten. Zwei Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf; dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn rings von allen Seiten mit größeren Feldsteinen an.

      Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei Nonnen, welche die Blumenvase zu Füßen des Kreuzes aufs neue füllten, blickten einander unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom Acker kamen, war die Wirkung verschieden: einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf, ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall, noch Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde. Im ganzen genommen konnten die. Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch auf einer Tafel . . .

      Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen.

      Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: »In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.«

      DIE SIPPE AUF DEM BERG UND IM TAL

      Ob er heute noch lebt, kann ich wirklich nicht sagen — mein Mann und ich haben schon lange nichts mehr von diesem Zweig der Verwandschaft gehört, und überhaupt bin ich selbst kein Freund von langen Familiengeschichten: sie sind meistens ganz uninteressant. Aber es ist natürlich gut möglich, daß man ihn doch noch am Ende in ein Irrenhaus stecken mußte, den Vetter Alban samt seiner Behauptung: er, ganz allein er, sei schuld. Man weiß ja, wie hartnäckig solche Leute an ihren Ideen hängen; mit solchen Leuten meine ich die, die nicht eigentlich wahnsinnig sind, sondern nur von einem Gedanken besessen, den andere Menschen nicht einsehen wollen, weil ihre Weltordnung sonst gestört oder am Ende nicht haltbar wäre — man kennt das an sich selbst. Für gewöhnlich helfen sich dann die Normalen, indem sie die fixe Idee dieser Menschen mit anderen fixen Ideen in einen Suppentopf werfen: zum Beispiel mit der fixen Idee, der Kaiser von China zu sein, oder ein großer Erfinder oder der wiederkehrende Christus oder sonst eine Abstrusität. Dann ist natürlich alles ganz klar, dann sagt man mit vollem Recht: verrückt! und beruhigt sich wieder dabei. Wahrscheinlich hat seine Frau, die Mathilde, seine Schwiegertochter, sein großer Enkel und die übrige Sippshaft das auch so gemacht, denn sie mußten ja weiterleben. Sie mußten für ihren schönen Hof und den Kolonialwarenladen leben, in dem man selbst im Jahr 43 noch allerlei kaufen konnte; vor allem aber mußte die arme Mathilde für ihre Hoffnung, den ältesten Sohn noch einmal wiederzusehen, leben — ihren Liebling, der in Stalingrad blieb, vielleicht ist er jetzt wieder da.

      Im übrigen finde ich, daß sie es alle im Grund gar nicht nötig hatten, sich über den Alban groß zu erheben und sich klüger zu dünken als er. Die ganze Familie, ich sage es mit einigem Widerstreben, war etwas rappelig. Gescheite Leute, gar keine Frage, aber alle ein bißchen gespritzt. Sehr musikalisch, ein Onkel zum Beispiel mußte jedes Jahr nach Bayreuth oder nach Salzburg fahren, ein anderer ging nach Amerika, überhaupt sind sehr viele ausgewandert, einer gar in die Türkei.

      Das alles: ich meine der Zustand dieser großen, verzweigten Familie, ist mir erst klar geworden, als ich in dem entsetzlichen Sommer der ersten Großangriffe mit den Kindern nach Hessen hinunterfuhr, um die Kleinen zu evakuieren. Es war nach der Zerstörung von Hamburg, und wir erwarteten in Berlin,

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