Pathos. Solmaz Khorsand
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Alles ist abgestimmt auf den männlichen Körper.21
Der Mann ist die Norm, die Frau nur eine Abweichung. Bis ins 17. Jahrhundert machten sich die Ärzte nicht einmal die Mühe, weibliche Organe extra zu benennen. So bezeichneten sie beispielsweise Eierstöcke schlichtweg nur als weibliche Hoden, bis europäische Wissenschafter genug Haie, Hasen und Raben seziert hatten, um den Unterschied der primären Geschlechtsmerkmale ausfindig zu machen.22
Nun hat sich zwar die medizinische Semantik weiterentwickelt, die Praxis nicht unbedingt. Sie behandelt den weiblichen Körper nach wie vor als Anomalie. Egal ob beim Herzinfarkt oder beim Autismus, solange sich die Beschwerden einer Frau nicht exakt so zeigen wie die eines Mannes, gelten ihre Symptome als atypisch und sie läuft Gefahr, falsch oder gar nicht behandelt zu werden.
Als „Yentl-Syndrom“ wird dieses Phänomen bezeichnet. Benannt nach der Figur Yentl aus dem gleichnamigen Film, in dem Barbra Streisand ein jüdisches Mädchen spielt, das sich als Junge verkleidet, um den Talmud in einer Jeshiva studieren zu können. Übersetzt auf die Medizin bedeutet das Syndrom, dass eine Frau nur dann entsprechend medizinisch versorgt wird, wenn ihre Symptome sich genauso äußern wie bei einem Mann. Doch der weibliche Körper funktioniert nicht wie der männliche. Er zeigt nicht dieselben Krankheitssymptome wie der männliche. Etwa bei einem Herzinfarkt. Bei Männern kündigt er sich mit Schmerzen in der Brust und im linken Arm an, bei Frauen nicht. Bei ihnen macht er sich mit Übelkeit, Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit und Übermüdung bemerkbar.23 Die Wahrscheinlichkeit, dass Ärzte die Symptome bei Frauen fehlinterpretieren, liegt bei 50 Prozent, da es sich für die meisten um „atypische“ Anzeichen handelt.
Die Folge: Herzinfarkte bleiben bei Frauen unentdeckt oder werden zu spät erkannt, was tödlich enden kann.
Auch die richtige Medikation ist für Frauen eine Glückssache. Die meisten Medikamente werden fast ausschließlich an Männern getestet. In vielen Fällen stellt sich heraus, dass sie auf Frauen nicht die gewünschte oder keine Wirkung haben.
Aber das wird in Kauf genommen. Da kann Anna so laut schreien, wie sie will.
Und Fatima braucht es gar nicht erst probieren.
Alles nur in deinem Schwarzen Kopf
„Each diagnosis took years to obtain. I have been gaslit by the medical community my entire life. My pain and knowledge of my body has been questioned at every turn by white doctors whose education has been historically steeped in anti-blackness.”24
Das beschreibt die Autorin Jazmine Joyner in ihrem Essay Nobody believes that black women are in pain, and it’s killing us. Darin analysiert sie ihre Erfahrungen als Schwarze Frau im amerikanischen Gesundheitssystem. Oft verwendet sie dabei den Ausdruck „Gaslighting“. Er ist entlehnt aus dem Theaterstück Gas Light des britischen Dramatikers Patrick Hamilton aus dem Jahr 1938. Darin will der Protagonist seiner Frau weißmachen, dass ihre Wahrnehmung, das Gaslicht hätte sich entzündet, nur eine Wahnvorstellung sei. Heute wird der Begriff verwendet, um eine Form von psychischer Gewalt und Missbrauch zu bezeichnen, in dem ein Täter die Wahrnehmung der Realität seines Opfers permanent in Frage stellt und mit dieser Art der Manipulation sukzessive zermürbt. Für Minderheiten ist Gaslighting Teil ihrer Realität, wie Joyner betont:
„I am gaslit into believing it’s all in my head, that nothing is wrong with me and my pain is tolerable. While I see the white patients in the beds next to me receive superior care, pain meds, and human decency, I am told to leave.”
Doch es ist nicht nur in ihrem Kopf. Die Zahlen geben ihr Recht. Schwarze werden öfter ignoriert25, bekommen weniger Medikamente und bekommen seltener weiterführende Behandlungen26, wenn sie exakt über die gleichen Schmerzen klagen wie Weiße.
2015 hat das Bostoner Brigham and Women’s Hospital untersucht, wie weiße und nicht-weiße Patienten mit Bauchschmerzen in der Notaufnahme behandelt werden. Schwarze hatten eine 22 bis 33 Prozent geringere Wahrscheinlichkeit Schmerzmittel zu bekommen als Weiße.27
Zu diesem Ergebnis kam auch die Wissenschafterin Salimah H.Meghani an der University of Pennsylvania School of Nursing. Sie hat Forschungsergebnisse der vergangenen 20 Jahre zur Behandlung Schwarzer Patienten ausgewertet. Sie stellte fest, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Schwarze Frauen und Männer bei Migräne, Rücken- und Bauchschmerzen Opioide verschrieben bekämen, um 34 Prozent geringer sei als bei Weißen. Selbst nach Operationen würden Schwarze im Schnitt um 14 Prozent weniger Schmerzmedikamente bekommen.28
Als Gründe für die diskriminierende Praxis werden mitunter rassistische Vorurteile angeführt. So ist die Annahme einiger Mediziner, dass Schwarze nur auf „Pillenjagd“ seien, um entweder ihre eigene Sucht zu befriedigen oder gar um die Medikamente weiterzuverkaufen.
Hinzu kommt eine weitere verstörende Annahme, die dazu führt, dass das Gesundheitspersonal die Schmerzen von Angehörigen von Minderheiten nicht ernst nimmt. Einige Mediziner haben sich immer noch nicht aus dem Mindset zu Zeiten der Sklaverei gelöst. So glauben sie, dass Schwarze weniger schmerzempfindlich seien als Weiße. In einer Studie der University of Virginia wurden 222 weiße Medizinstudenten mit einigen Fragen konfrontiert, etwa ob Schwarze weniger schnell altern würden als Weiße, ob ihre Nervenenden weniger sensibel seien und ob ihr Blut schneller gerinnen würde als das von Weißen. Die Hälfte der Befragten bejahte diese Falschaussagen.29
Nun sind einige, vor allem in Europa, geneigt zu sagen, dass sich diese rassistischen Annahmen ausschließlich auf die USA beschränken würden, auf dieses hinterwäldlerische Amerika mit seiner verkorksten Geschichte aus Rassenunruhen, Ungleichheit und Turbokapitalismus, wo es leicht einmal passieren kann, dass einer verreckt, wenn er nur die falsche Hautfarbe und zu wenig Geld auf dem Konto hat.
Doch auch im deutschsprachigen Raum ist das Gesundheitspersonal vor solchen Annahmen nicht gefeit. Hier dominiert das Bild der expressiven Südeuropäerin, die mit ihrem Leid nur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte. Von „Mama-mia-Syndrom“, „Morbus Bosporus“ oder „Morbus Balkan“ ist dann die Rede, wenn Pflegepersonal „die kulturelle Dimension des subjektiven Schmerzempfindens von Schmerzpatienten“30 kommentiert.
„So ist es in unserer westeuropäischen Kultur üblich, Gefühle in der Öffentlichkeit unter Kontrolle zu halten, ein selbstbeherrschtes Verhalten zu zeigen und auch den Schmerz nicht expressiv zum Ausdruck zu bringen“31, schreibt Ulrike Lenthe, Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege sowie Krankenhausmanagerin und Pflegedirektorin eines Altenheims in Bruck an der Leitha, in einem Aufsatz. „Im Gegensatz dazu ist es in anderen Kulturen sozial akzeptiert, spontane Gefühle zu zeigen und Schmerzen stärker zu präsentieren als wir es tun.“ Aufgrund der eigenen soziokulturellen Sichtweisen könnte für das heimische Pflegepersonal eine „expressive Schmerzäußerung“, wie sie etwa von Personen aus dem Mittelmeerraum oder dem Nahen Osten wahrgenommen wird, daher als „befremdlich oder sogar als Normenüberschreitung“ angesehen werden und würde als Übertreibung abgetan. Mitunter würden solche Patienten gar als Simulanten abgestempelt.
Um kulturbedingte Missverständnisse zu vermeiden, müsste das Personal in interkultureller