Hol über, Cherub. Hans Leip

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Hol über, Cherub - Hans Leip

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      Hans Leip

      Hol Über Cherub!

      Ausgewählte Erzählungen

      Saga

      Die Braut und die Schiffsglocke

      Mintje Terborn, blond, rundlich, wohlbehütet, war aufgewachsen in einer der Villen an der Seebadseite zu Vlissingen, die alle aussehen, als wären sie miteinander verschwägert. Und so verlobte sich Mintje mit Paul Vanderstraat von nebenan, der flott und dunkel und ehrgeizig aussah und Bankfach gelernt hatte und als einziger Erbe seines Onkels – bei dem er wohnte – in Betracht kam. Einige Romane von Laurids Bruun hatten ihn nebenbei mit windigen Vorstellungen von der Welt jenseits der Ozeane erfüllt. Er beschloß deshalb, das Jahr bis zur Hochzeit in einem seinem Onkel befreundeten Bankhause in Rio zu verbringen. Schon seiner Lektüre zuliebe wählte er statt des Flugzeuges einen Dampfer für die Überfahrt.

      Auf der Schiffsroute gen Südamerika gilt die Insel Madeira als geeignete und hübsche Zwischenstation. Man pflegt sich dort erfolgreich dem Klimawechsel zwischen Europa und drüben oder umgekehrt anzugleichen. Mintjes Vater hatte Geld genug, um seiner Tochter und sich zu gestatten, Paul bis dorthin auf seiner Überseereise zu begleiten. Er war lange Witwer und herzleidend und Mintje seine Einzige; und da es ihr so gut in Funchal gefiel, zumal in Reids teurem Hotel, hatte er nichts dagegen, als sie beschloß, allda das Wiedersehen mit Paul zu feiern. Nach Jahresfrist sollte dann auch die Trauung auf Madeira stattfinden, abseits aller Welt, hinter den gelb und blauen Fenstern der kleinen Bergkirche Saõ Martinho. Und die Jakarandabäume würden wiederum so vergißmeinnichtblau blühen.

      Doch Paul sah sich drüben angesichts des Zuckerhutes in den schwülen Tropennächten gesellschaftlicher Feste bald anders gefesselt. Und da es die Tochter seines Bankchefs war, ließ sein Ehrgeiz sich verleiten, die Vergangenheit und deren Verpflichtungen gering zu achten. Aber erst gegen Ende des Auslandsjahres wagte er mitzuteilen, daß er nicht mehr heimzukehren gedenke. Er schrieb dieses nicht etwa an Mintje, sondern an deren Vater. Dieser warf den Brief in den Ofen. (Man bevorzugte damals noch richtige Stubenöfen zu Vlissingen.) Sah dann aber doch ein, es sei geraten, das Töchterchen zu verständigen. Ehe er aber in der Erregung ein aufklärendes Wort hätte hervorbringen können, verschied er, vom Schlag getroffen.

      Mintje, ahnungslos, von den immer kühler gewordenen Bräutigamsbriefen weniger erkältet als angeheizt, ließ ihre Reisevorbereitungen nicht lange durch die Förmlichkeiten der Trauer unterbrechen. Mit dem Brautkleid im Koffer fuhr sie allein nach Madeira.

      Viele Dampfer kamen von Südamerika. Aber Paul war nicht an Bord. Der Termin des Wiedersehens war längst überschritten. Paul ließ nichts von sich hören. Er war wie verschollen. Kein Telegramm schien ihn zu erreichen. (Es muß gesagt werden, sie spielten drüben alle unter einer Decke, und selbst Pauls Onkel, der Bescheid wußte, wagte nicht, so grausam zu sein, Mintje die Augen zu öffnen.) Und so wartete sie weiter.

      Sie hätte sicher unschwer über Behörden und Ämter Auskunft erlangen können. Aber sie unterließ jede Nachsuche. Sie sträubte sich, enttäuscht zu sein. Sie lehnte ab, an Betrug zu denken oder gar an Pauls Tod. Sie war von der beharrlichen Sorte, die fertigbringt, die fließende Wirklichkeit zum „Stillstand zu bewegen“. Gerade die rundlichen, so irdisch robust aussehenden Typen sind es gelegentlich, die ihr Gleichgewicht auf dem spitzesten Finger balanciert finden. Sie ertragen nicht, ihr Glück zerrinnen zu sehen. So lassen sie es gerinnen.

      Als in einer stürmischen Nacht ein Fischer vor Funchal eine geheimnisvolle weiße Jacht unweit der gefährlichen Desertasklippen gesichtet haben wollte, da legte sich Mintje Terborn mit verzweifelter Entschiedenheit die Vorstellung zurecht, Paul sei mit dieser Jacht unterwegs zu ihr.

      Es gibt Zustände, darin Zeit unwesentlich wird. So erging es Mintje. Ihr machte es nichts aus, daß dieses weiße Schiff nicht in den Hafen einlief, sondern so verschollen blieb wie Paul selber. Derselbe Fischer nun, von der Wirkung seiner Nachricht angeregt, suchte eifrig nach Wrackteilen und Ertrunkenen, fand aber nichts als eine alte Schiffsglocke, welche die Brandung zwischen die Klippen geworfen und die schon lange dort gelegen haben mochte, unkenntlich überwuchert von Seepocken und Saugmuscheln. Der findige Mann wandte eine Menge Sand und sogar eine Dose Putzpomade daran, das bronzene Gehäuse zu säubern und auch noch die Patina herunterzuscheuern. Dann brachte er sie ins Hotel.

      Da kam nun ein gewisser Mister Crunk darüberzu, ebenfalls Gast in Reids Palace und sachkundig. Der meinte, der Form nach und auch betreffs der verschliffenen Zierate sei die Glocke ihre runden vierhundert Jahre alt und stamme womöglich von einer der gescheiterten Fregatten des Seeräubers Montluc.

      Fregatten gab es vor vierhundert Jahren noch nicht. Das war, was Mintje Terborn antwortete. Denn sie war aus Vlissingen und aus einer Reederfamilie. Gewillt nun und fähig, alles auf den einen Nenner zu bringen, fuhr sie fort: Und warum, Mister Crunk, sollte Paul die Glocke nicht auf seiner Privatjacht benutzt haben? Derlei kann man vielleicht sogar in Rio beim Trödler kaufen. Er weiß zu rechnen. So ein altes Ding war vielleicht billiger als eine neue. Und dann hat sie der Sturm über Bord gefegt, als sein Schiff vom Kurs abkam. Er ist unterwegs. Wir werden die Sache bald geklärt finden.

      Und sie unternahm, der Glocke einen Ton abzugewinnen, obwohl der Klöppel fehlte, und hob sie kräftig auf und schlug mit ihrem Verlobungsring an die Wandung. Es gab einen metallischen Klang ohne große Besonderheit. Sie lauschte ihm hingegeben; denn es war der Klang, den Paul vernommen haben mußte die ganze Überfahrt lang im Abschlag der Glasen alle halbe und volle Stunde. Und sie zahlte einen beträchtlichen Finderlohn und entzog sich dem Glückwunsch Crunks, der äußerte, sie habe den Sammlerwert beachtlich unterboten. Auch den übrigen Behelligungen, die in einem großen Hotel unausbleiblich sind, entzog sie sich, den aufmerksamen Blicken, den gesellschaftlichen Anbiederungen, der Neugier, dem Mitleid, dem Lächeln. Sie zog in eine bescheidene Pension nahe der Landemole.

      Dort, in einem lichten Moment, untersuchte sie die Glocke aufs gründlichste, so als ob diese eine Art Flaschenpost sei. In dem kleinen Schuppen auf dem Dache neben dem Wassertank hantierte sie mit grobem Werkzeug daran herum. Sie muß doppelwandig sein, sagte sie. Der Klang hat es mir gleich verraten.

      Mit Hilfe der Hausmeisterin gelang ihr, das Klöppellager herauszuschrauben, und tatsächlich, eine äußere und innere Glockenhaube waren höchst kunstvoll mit den Rändern ineinandergeschliffen, gehalten durch den Klöppelbolzen. Der Hohlraum dazwischen allerdings erwies sich als leer.

      Fräulein Terborn tat nun alles, um den Zustand der Beharrlichkeit aufs neue zu sichern. Da in einen solchen die Börsenkurse schlecht hineinpassen, ließ sie ihr in Papieren angelegtes Erbgut restlos in Pfundnoten umwechseln. Unterdes hatte sie die Glocke mit einem verschließbaren eisernen Bodendeckel versehen lassen, der so angebracht war, daß die beiden Hülsen dennoch voneinander trennbar blieben; denn den Hohlraum dazwischen hatte sie als ihren Geheimsafe ausersehen; dahinein schichtete sie die vielen Hunderterscheine. Und sie besorgte es bei verschlossener Tür ohne die Hilfe der Hausmeisterin.

      Diese, eine Mulattin, vierschrötig, nicht mehr jung, durch allerlei Mißgeschick verbittert und besonders darüber, keine Weiße zu sein, hatte die Zimmerbetreuung der Holländerin selber übernommen, sich einiges an Trinkgeldern, abgelegten Kleidern, Seifenstückchen und ausgelesenen Magazinen versprechend. Ihr schien die üppige fremde Blondine, die das beste, zum Hafen gelegene Zimmer als Dauergast bewohnte und scheinbar nicht nötig hatte zu arbeiten, so beneidens- als hassenswert, und sie verrichtete die übliche tägliche Bedienung, zumal als die Dame das Zimmer nicht mehr verließ, in steter lauernder schweigsamer Erregung. War es zuerst das weiße strahlende Fleisch und das Gold der Haare gewesen, das ihre Gier und die Notwehr ihres Widerwillens aufgereizt, so wurde es im Laufe der Jahre immer mehr die Glocke, diese lächerliche Schiffsglocke, die neben dem Bett stumm und bedeutsam auf dem Nachttisch stand. Hüte sie mit mir, Sirza! hatte die Holländerin gesagt und hatte die Vokabeln aus einem portugiesischen Wörterbuch

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