Hol über, Cherub. Hans Leip
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Und so saß Mintje am Fenster, abseits der Weltgeschichte, ein Muster unwandelbarer bräutlicher Geduld, Jahr um Jahr. Wenn sie die Augen hob, blickte sie zur Landemole hinüber und dann aufs Meer bis an den Horizont und dann auf die Hafenreede und zurück auf den gleich ihr wartenden Glockensafe. Wir werden ein Haus davon bauen und einen Garten haben und vier Kinder, flüsterte sie. Und die Glocke hängen wir in den Windfang oder auf den Vorplatz statt eines Gongs. Sie wird uns alle zu den Mahlzeiten versammeln ...
Paul Vanderstraat unterdessen lebte das gehetzte Dasein eines zu Rio de Janeiro verheirateten Bankiers. Als sein Sohn so weit war, ihn zu entlasten, kam irgendein schwarzer Donnerstag und ließ wenig übrig. Paul tat das für ihn Einfachste und beglich mit sich selber. Der Sohn, Paul mit Namen wie sein dahingegangener Vater und fast dessen junges Ebenbild, geriet nach einigen matten Anläufen, sein Brot standesgemäß zu verdienen, als Aufwärter an Bord einer Privatjacht. Der Besitzer war einer jener Junggesellen und Brasilianer, die erworbenen Reichtum rechtzeitig in Genuß umzusetzen vermögen. Er sammelte Briefmarken, Gemälde und bibliophile Ausgaben wie andere auch, hatte aber zudem ein Sondergebiet. Er sammelte alte Schiffsglocken. Und gerade darin gedachte er, auf einer Weltreise an allen guten Küsten der Erde seinen Bestand um einiges Bedeutende zu vermehren.
In Kapstadt lernte er einen Gentleman namens Crunk kennen. Dieser behauptete, er habe zu Funchal auf Madeira eine Glocke gesehen, die unzweifelhaft von einer der Galionen Montlucs stamme. Sie sei damals im Besitze einer etwas wunderlichen jungen Dame aus Holland gewesen.
Damals? Wann war das? fragte der Brasilianer.
Mister Crunk dachte nach. Dann lachte er: Es ist mindestens zwanzig Jahre her. Das fulminante Objekt wird längst in einem Museum begraben sein.
Dennoch ankerte die brasilianische Jacht eines Tages auf der Reede zu Funchal.
Verzichten kommt nie zu spät, sagte der Eigner zu Paul: Ich habe beim Konkurs Ihres Vaters einiges verloren, und er hat gemeint, es zu sühnen, als er sich die Pistole an die Schläfe setzte. Sie können etwas Holländisch von ihm. Vielleicht leben hier noch holländische Damen mit Seeräuberglocken. Versuchen Sie, es gut zu machen!
Paul also begab sich an Land. Und eben hatte er, an den bergbäuerlich gekleideten Blumenverkäuferinnen vorbei, den breiten Betonweg der Mole abgeschlendert, als ihm eine Dame mittleren Alters, groß, rund und schwerfällig, entgegenkam. Sie war altmodisch gekleidet und lächelte starr und war so blauäugig und bleich wie eine Delfter Kachel und sagte: Da bist du ja, Paul. Ich sah vom Fenster aus, wie deine weiße Jacht auf der Reede Anker warf.
Paul grüßte unverblüfft auf Holländisch zurück. Er war als Steward gewohnt, mit Vornamen angeredet zu werden. Der Boß wird eine verteufelte Funkverbindung zustande gebracht und mich angemeldet haben, dachte er, und er fragte ohne Umschweife nach der Glocke.
Inzwischen schien für die Mulattin Sirza der Augenblick gekommen, eine seit zwanzig Jahren angestaute Begierde handgreiflich zu erlösen. Eben hatte das holländische Fräulein unversehens das Zimmer verlassen, seit zwei vollen Jahrzehnten das erste Mal, und war, so rasch die überreife Fülle und die aller Anstrengung entwöhnten Beine es erlaubten, auf die Straße geeilt und der Landemole zu. Sirza behielt sie durchs Fenster scharf im Auge, die umgestülpte Glocke im Schoß, und probierte das ganze Schlüsselbund des Hauses durch. Aber der Glockenboden wollte sich nicht öffnen. Wie häufig hatte sie doch mit dem Gedanken gespielt, diese alberne Glockenbraut zu erwürgen und ihr den richtigen Schlüssel vom Halse zu nehmen.
Oh, sie ahnte die ungeheure Summe, die hinter dem Glockenmantel verborgen lag. Wie eine rechtzeitig emigrierte Fürstin würde man davon leben können. Sie, Sirza, die Unbeachtete, Verachtete, das Halbblut, die Dreckaufleckerin für die anderen, grau, häßlich und alt. Weiße Dienstboten würde sie sich halten ...
Kam sie etwa schon zurück, diese holländische Verrücktheit und Spitzenmacherin, diese blöde, immer noch blonde unnotwendige Armseligkeit, dieser Glockenschatzdrachen? Und nicht einmal allein? Kam zurück sogar mit einem schnittigen jungen Senhor in Tropenweiß? O Nossa Senhora do Monte und alle neunhundertundneunzig Heiligen! Schon klangen die breiigen ausländischen Stimmen vom Hausflur herauf, schon auf der Treppe ... Sirza stellte die Glocke auf den Nachttisch zurück und drückte sich, vor Enttäuschung fiebernd, eben noch unbemerkt zur Zimmertür hinaus.
Draußen blühten die Jakarandabäume. Die Dame hatte Paul darauf aufmerksam gemacht und an eine scheinbar ein Jahr zurückliegende Verlobungsfeier erinnert. Paul junior war auf Wunderliches gefaßt. Freundlich und obenhin ging er auf alle Bemerkungen ein, seinen Auftrag im Sinn. Wie sollte er ahnen, welche Beziehungen ihn an diesen Platz geführt und daß er nichts sei als das Opfer von Energien, deren äußere Sanftheit täuscht, obschon es, jedermann geläufig, heißt: Der Glaube kann Berge versetzen. Die Dame hielt sich mühsam. Sie nahm seinen Arm. Auf der Treppe mußte er sie kräftig stützen. Aber endlich standen sie in dem kärglichen Pensionszimmer. Und da war auch die Glocke. Paul gedachte, es kurz zu machen. Wieviel? fragte er geschäftlich.
öffne selber, Paul! erwiderte sie erschöpft, aber strahlend. Meine ganze Mitgift ist darin. Und sie reichte ihm den Schlüssel, der an ihrem Busen geruht und warm war von ihrem Herzblut. Aber dank der Anstrengungen Sirzas sperrte sich das Schloß. Wir werden den Preis erklecklich senken, dachte Paul und murmelte etwas von kannibalischer Verhunzung des fragwürdigen Stückes und verlangte nach Werkzeug, um es zu befreien.
Unser Werkraum befindet sich auf dem Dache, Liebster! erklärte sie. Ich ziehe mich unterdes ein wenig um. Du bist so überraschend eingetroffen ...
Auf dem flachen Dache dann war Paul mit Hammer und Meißel gerade erfolgreich, den Glockenboden zu lösen, als katzenleise die Mulattin auftauchte. Sie nahm ein breites Stemmeisen zur Hand. Ich helfen! sagte sie. Paul hatte ein Ohr für begehrliche Untertöne von seines Vaters Geschäft her. Verschwinde, Nigger! knurrte er.
Nigger ... Das Wort entblößte die Mulattin jeder Hemmung. Und wie nun der Fremde verdutzt das aufklaffende Glockeninnere anstarrte – es war leer –, hieb sie ihm die Eisenschneide in den Nacken.
Nach einer Weile kam Mintje Terborn herauf, schwer atmend, festlich geschmückt. Sie gedachte, sich zu erkundigen, wieweit die Bemühung gediehen, und hoffte auf das glückstrahlende Lächeln ihres Ersehnten. Aber sie traf nur die Mulattin an, und die war dabei, mit einer Handvoll blutiger Hobelspäne umherzuwischen. Himmel, Sirza, was ist passiert? ächzte sie. Die Mulattin erwiderte mürrisch: Was schon! Der fremde Herr hat das Ding nicht klargekriegt und sich in den Finger geschnitten und ist ab damit.
Das Fräulein war im Warten geübt. Es vermochte sogar zu lächeln und sagte: Er wird zum Schlosser gegangen sein und zum Arzt.
Weniger geübt wartete der