Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan Skudlarek
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist - Jan Skudlarek страница 3
Auf theoretischer Ebene sicherlich.
Die Theorie geht so: Echtes Leder ist gegerbte und mit Chemikalien haltbar gemachte Tierhaut. Sie stammt, nun ja, von einem echten Tier. Zum Beispiel von einem Rind oder einem Kalb, das, wie alle Lebewesen, durch Zeugung entstanden und durch Zellwachstum herangewachsen ist, bis es schließlich von Menschen geschlachtet und gehäutet wurde.
Kunstleder war nie Bestandteil eines Lebewesens. Deswegen können Tierfreunde es bedenkenfrei tragen. Kunstleder ist nämlich – hier kommt die Pointe – kein echtes Leder. Es besteht aus Textilien, die mit einer Kunststoffschicht überzogen werden, um wie echtes Leder zu wirken.
In der Theorie ist der Unterschied einfach zu erkennen.
In der Praxis sieht das schon ganz anders aus.
Kennt man sich nicht so gut aus, ist es nicht einfach, echtes Leder von Kunstleder zu unterscheiden. Zumindest nicht auf Anhieb. Stellen wir uns eine Fußgängerzone vor: Zehn Passanten laufen vorbei. Sie tragen Jacken, Handtaschen, Schuhe, Gürtel. Manche davon aus echtem Leder, die anderen nicht. Von nahem sieht das geschulte Auge den Unterschied. Wer sich dafür nicht so interessiert, wird den Unterschied eher nicht erkennen.
Und genau das ist der Sinn der Sache!
Im Ladengeschäft verhält sich das dann wieder anders. Der Kenner weiß nämlich: Echtes Leder ist teuer. Weil es eben aufwendig ist, ein Tier zu züchten und dessen Haut fachgerecht zu Lederstoffen weiterzuverarbeiten. Kunstleder ist da billiger. Auch die Haptik ist anders. Leder und Kunstleder fühlen sich unterschiedlich an. Der Unterschied ist sogar zu riechen (Kunstleder riecht oft chemisch).
Was lernen wir vom Leder?
Es kommt auf die Umstände an. Den Gesamtkontext. Wie nah sind wir dran? Was können wir überhaupt erkennen? Was wissen wir? Echtheit und Unechtheit erfassen wir mit den Sinnen. Wir sehen, fühlen, riechen. Ziehen Schlüsse auf Grundlage dieser Eindrücke. Das Erkennen der Wirklichkeit ist ein körperliches und ein gedankliches Erkennen.
Stoffliche und soziale Echtheit
Es geht um Schein und um Sein. Und es geht nicht nur um Leder. Das Prinzip, das sich beim Unterschied zwischen Leder und Kunstleder zeigt, ist das Prinzip der stofflichen Echtheit. Ein Ding X ist das, was es ist, weil es stofflich so beschaffen ist, die Definition von X zu erfüllen. Nur weiterverarbeitete Tierhaut ist Leder, so will es unsere Definition. Der echte Stoff eben.
Genug geledert.
Stoffliche Echtheit gilt für allerlei Dinge. Ein Diamantring mag auf dich und mich wie ein Diamantring wirken – ein echter Diamant ist es nur dann, wenn der Stein ein natürlich entstandenes Mineral ist, eine bestimmte Dichte und Härte aufweist, seltene optische Eigenschaften verkörpert und so weiter. Strass, also kunstvoll geschliffenes Glas, kann für Laien aussehen wie Diamant.
Oder denken wir an Gold. Gold ist nur dann Gold, wenn es die von uns anerkannten Gold-Eigenschaften besitzt – also nicht nur die typische Farbe, sondern einen Schmelzpunkt bei 1064 °C usw. Es ist bekanntlich nicht alles Gold, was glänzt (es gibt eine eigene Debatte in der Philosophie, ob das, was wir auf fremden Planeten für Wasser halten, tatsächlich Wasser ist und warum).
Als ersten Punkt können wir festhalten: Zwischen »echt« und »unecht« besteht eine Ähnlichkeitsbeziehung. Wenn wir ein Ding X (fälschlicherweise) für ein Ding Y halten, dann deswegen, weil zwischen Ding X und Ding Y eine augenscheinliche Ähnlichkeit besteht. Diese Ähnlichkeitsbeziehung bedingt die Verwechslungsgefahr. Wir verwechseln z. B. Plastikpflanzen mit echten Pflanzen. Weil sie sich ähnlich sehen und weil sie sich ähnlich sehen sollen. Dinge, die sich nicht ähnlich sehen, verwechseln wir nicht (z. B. verwechselt niemand einen Schlüsselbund mit einem Stuhl oder eine Waschmaschine mit einem Zeppelin). Doch: Schein und Sein liegen bisweilen nah beieinander.
Auf der Suche nach dem Wesen der Echtheit stellen wir fest: Optische Ähnlichkeit reicht allein nicht aus. Was echt aussieht, ist es nicht unbedingt auch.
Diese Einsicht ist weniger trivial, als man vielleicht meint. Immerhin beurteilen wir sehr vieles im Leben erst mal nach dem Aussehen. Man soll aber ein Buch nie nur nach seinem Umschlag bewerten – das kann bitteres Erwachen bedeuten, wenn der Schein trügt.
Jenseits stofflicher Echtheit gibt es weitere wichtige Fälle von Echtheit und Unechtheit. Fälle, in denen die rein physische Beschaffenheit nicht ausschlaggebend ist wie etwa bei Gold.
Ich spreche von sozialer Echtheit.
Einen echten Juristen z. B. erkennt man nicht daran, dass er besonders groß oder klein ist oder einen Schmelzpunkt von 1064 °C hat. Du bist ein echter Jurist, wenn du die in deinem Land übliche juristische Ausbildung erfolgreich absolviert hast. Die verantwortlichen Institutionen verleihen dir den Status »Jurist«.
Ganz ähnlich ist es mit anderen sozialen Rollen. Vor allem Berufe haben Echtheitskriterien. Für viele von ihnen gelten klare Regeln, wer sich wann wie nennen darf. Polizist, Arzt, Ingenieur, Richter, Psychologe, KFZ-Mechaniker – alles Berufe, bei denen die Gesellschaft regelt, wer unter welchen Umständen so auftreten und sich so nennen darf.
Der Zusammenhang von Sein und Schein ist bei sozialer Echtheit mehrdeutiger als bei stofflicher. Einerseits gibt es Merkmale, die uns darauf hinweisen, mit wem wir es zu tun haben. Nicht immer, aber durchaus häufig. Polizisten tragen Uniform, Richter eine Robe, Ärzte oft Weiß. Andererseits ist der Status (also das echte Sein) nicht an den Schein gebunden. Ein Polizist ist immer noch ein Polizist, wenn er seine Uniform auszieht, der Arzt ein Arzt, wenn er im Schwimmbad ist, der Richter ein Richter, wenn er keine Robe trägt, sondern ein Nachthemd. Anders herum bin ich noch kein echter Polizist, Arzt oder Richter, nur weil ich die entsprechende Kleidung trage. Uniformen repräsentieren die Rollen und Funktionen. Sie sind es nicht.
Ohne Regeln, die soziale Echtheit garantieren, könnte ich heute aufstehen, einen Kittel anziehen und mich »Arzt« nennen. Das könnte jedoch üble Konsequenzen haben: Ich könnte Menschen verletzen, ja, für ihren Tod verantwortlich sein. Bevor also jemand zu Schaden kommt, sollten wir lieber auf solche Experimente verzichten. Doch nicht alle halten sich an gesellschaftliche Echtheitsregeln (trotz hoher Strafen für Amtsanmaßung, Betrug usw.).
Immer wieder kommt es zu spektakulären Fällen von Betrug und Hochstapelei. So arbeitete Gert P., gelernter Postzusteller aus Bremen, in den 1980er und 1990er Jahren bei mehreren Arbeitgebern als leitender Arzt. Mit einer Mischung aus angelesenem Wissen, Urkundenfälschung und dreister Lüge gelang es ihm, sich gegen andere, angemessen qualifizierte Bewerber durchzusetzen. Er war jeweils mehrere Monate lang als Facharzt für Psychotherapie tätig, sogar als Oberarzt; er schrieb Rezepte und Gutachten. Durch sein selbstsicheres Auftreten dauerte es, bis jemand Verdacht schöpfte.
Zu keinem Zeitpunkt war Gert P. ein echter Arzt.
Auch wenn er sich zeitweise so verhielt.
Er verhielt sich wie ein echter Arzt.
Zwei Fälle von (Un-)Echtheit
Rachel Dolezal war bis 2015 Lehrbeauftragte für afroamerikanische Studien an der Eastern Washington Universität und darüber hinaus aktiv in der schwarzen Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). Es kam zu einer Kontroverse, als die Öffentlichkeit erfuhr, dass Dolezal – eine sympathisch wirkende Frau mit hellbrauner Haut, die stets behauptete, einen schwarzen Vater und eine weiße Mutter zu haben – keinerlei »echte« schwarze