Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan Skudlarek
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Was haben einige Gemälde von Max Ernst, Heinrich Campendonk und Fernand Léger miteinander gemein? Sie wurden alle vom selben Maler gemalt. Wolfgang Beltracchi. Besser gesagt: Gefälscht. Der als »Jahrhundertfälscher« geltende Beltracchi hatte über Jahre hinweg nahezu perfekte Bilder in den Stilen bekannter Maler gefälscht – und natürlich leicht verkauft. Insbesondere die verantwortlichen Experten und Gutachter waren fest davon überzeugt, unentdeckte oder verschollene Bilder wichtiger Künstler vorliegen zu haben. Die Wahrheit: Beltracchi malte alles selber, ergaunerte sich auf diese Weise Millionen. Schlussendlich flog alles auf, weil er versehentlich einen Weißton benutzt hatte, der modernes Titanweiß enthielt und somit nicht in die angegebene Entstehungszeit passte. Der echte Kunstfälscher Beltracchi, der einen Schaden in zweistelliger Millionenhöhe verursachte, wurde 2011 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Mittlerweile ist er aus der Haft entlassen. Durch die Kombination aus seinem beachtlichen handwerklichen Können und seinem Ruf als ehemaliger Meisterfälscher ist heute ein »echter Beltracchi«, also ein ungefälschtes Bild von ihm selbst, ordentlich viel Geld wert.
Die Ähnlichkeitsbeziehung, die den Unterschied zwischen »echt« und »unecht« macht, lag in diesem Fall auf der Verhaltensebene. Weil ich mich wie ein Arzt verhalte, bin ich noch lange keiner. Zur sozialen Echtheit gehört, dass ich die Herkunftskriterien erfülle, die zur jeweiligen Rolle gehören. Soll heißen: Die Geschichte. Für den Fall des Mediziners heißt das: Der Mediziner gilt deshalb als echter Doktor, weil er ein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen hat, Arzt im Praktikum war, sein zweites Staatsexamen abgelegt und vielleicht sogar eine Doktorarbeit geschrieben, also den Anforderungen entsprochen hat, die man erfüllen muss, um den Titel tragen zu dürfen. Das ist seine berufliche Geschichte. (»Echter Doktor« bin ich übrigens auch, und wenn Sie diese Zeilen lesen, befinden Sie sich ja offensichtlich bereits in meiner Behandlung.)
Wir sehen: Soziale Echtheit hat institutionelle Aspekte.
Es ist sogar denkbar, dass ein unechter Arzt im Ausnahmefall seine Patienten besser behandelt als ein echter. Sehr unwahrscheinlich, weil die jahrelange Ausbildung zum Arzt (oder Anwalt oder Polizist) natürlich keine Schikane ist, sondern notwendiges Fachwissen vermittelt. Dennoch können wir uns einen Einzelfall vorstellen, in dem ein Hochstapler, der ein paar medizinische Bücher gelesen hat, beispielsweise eine seltene Krankheit – sei es aus Zufall oder Talent – richtig diagnostiziert.
Kuriose Ausnahmen von dieser Regel gab es mehrfach auch in Wirklichkeit: Ein gewisser Ferdinand Waldo Demara war als falscher Schiffsarzt während des Koreakrieges im Militäreinsatz und offensichtlich so dreist (und irgendwie talentiert), verwundete Soldaten mit Hilfe eines quasi als Spickzettel aufgeschlagenen Fachbuchs zu operieren – und erstaunlicherweise ist niemand gestorben. Die Endstufe des learning by doing, quasi. Irgendwann landete Demara dennoch im Gefängnis.
Durch eine erfolgreiche Behandlung oder auch durch Monate oder Jahre erfolgreicher Behandlungen wird ein Betrüger allerdings niemals zum echten Arzt. Für eine solche soziale Echtheit reicht es nicht aus, Handlungen so auszuführen, wie sie auch ein echter X ausführen würde. Entscheidend ist nämlich auch und vor allem die Herkunft bzw. der geschichtliche Kontext. Gemeint ist die Ausbildungsgeschichte der Menschen und die Geschichte des institutionellen Beiwerks ebenjener Ausbildung (Zeugnisse usw.). Lange Rede, kurzer Sinn: Echte Zeugnisse kommen von Universitäten. Nicht aus meinem Drucker.
Echter Champagner
Und dann gibt es noch Mischformen stofflicher und sozialer Echtheit. Fälle, in denen wir etwas als echtes X anerkennen, weil es stoffliche Echtheitskriterien und darüber hinaus soziale Echtheitskriterien erfüllt.
Denken wir an Champagner.
Champagner ist einerseits Champagner, weil er Schaumwein ist – und kein Bier oder keine Coca-Cola oder Putzwasser. Das ist der stoffliche Anteil. Die Schaumwein-Kriterien müssen auf physischer Ebene erfüllt sein. Andererseits ist echter Champagner nur dann echter Champagner, wenn er aus der Champagne kommt, also aus einer Region in Frankreich. Die Trauben müssen auf eine genau geregelte Art angebaut und verarbeitet (Pflanzungsdichte, in einem genau abgegrenzten Gebiet, Ertragsbeschränkung, Flaschengärung, Mindestlagerzeit auf der Hefe usw.) werden. Sonst ist es kein echter Champagner. Schaumwein, der diese (sozialen) Kriterien nicht erfüllt, nennt man Sekt. Champagner ist nur der Sekt aus der Champagne, weil wir uns als Gemeinschaft darauf geeinigt haben, nur diesen Sekt als Champagner anzuerkennen.
Echt ist das, was wir gemeinschaftlich als echt anerkennen.
Von der Perücke, die als Echthaar durchgeht, über falsches Geld, mit dem man dennoch bezahlt, bis hin zu Silikonbrüsten. Vom falschen Polizisten bis hin zum falschen Arzt.
Was echt ist und was unecht, hat also sowohl mit Schein als auch mit Sein zu tun.
Was zunächst echt zu sein scheint, ist es deswegen noch lange nicht.
Falschgeld kann nichts dafür, dass jemand es gefälscht hat. Bei Menschen ist die Lage anders. Menschen wissen nämlich in der Regel sehr wohl, ob sie selbst etwas sind oder nur so scheinen wollen. Wer vor anderen Schein und Sein vertauscht, ist unaufrichtig. Vor allem handelt es sich beim »absichtlich etwas vorspielen, das gar nicht wahr ist« um eine bewusste Täuschung.
Der Täuschungsaspekt steht in direkter logischer Beziehung zum Problem der Wahrheit und der Echtheit. Täuschen bedeutet ja nichts anderes als das: einer Unwahrheit den Schein der Wahrheit zu geben bzw. einer Unechtheit den Schein der Echtheit. Niemand praktiziert aus Versehen als (falscher) Arzt, niemand tritt aus Versehen als (falscher) Polizist auf.
Eine unabsichtliche Verwechslung kann man natürlich schnell aufklären. Wer mit weißem Hemd im Krankenhaus von einer Patientin gefragt wird »Entschuldigung, arbeiten Sie hier?«, der entscheidet sich in dem Moment, wenn er antwortet, zwischen Schein oder Sein. Verwechslungen sind normal und gehören zum Alltag dazu. Ein bewusstes Täuschen über die Wahrheit der Dinge findet dann statt, wenn ich weiß, dass das, was ich vortäusche, nicht der Wahrheit entspricht – ich aber so tue als ob, damit die andere Person das Vorgetäuschte für Wahrheit hält.
Ein Kernproblem bei der philosophischen Frage nach Echtheit ist also das So-tun-als-ob.
Nicht jedes So-tun-als-ob ist aber ein Wahrheitsproblem. Zum Problem wird es, wenn man dadurch andere absichtlich täuschen will (ggf. böswillig, zum eigenen Vorteil). Breivik tat so, als wäre er ein echter Polizist, um sich Zugang zur Insel Utøya zu erschleichen. Beltracchi tat so, als wären seine Kunstwerke die von anderen (bekannteren) Malern.
Doch was passiert, wenn tatsächlich alles nur Schein ist?
Das Truman-Show-Problem9
Erinnern Sie sich an den Film The Truman Show (1998)? Er erzählt die Geschichte von Truman Burbank; ein Durchschnittsbürger, der in der harmonischen Kleinstadt Seahaven ein ganz normales Leben führt. Zumindest so lange, bis Truman nach einigen Zwischenfällen skeptisch wird. Nach und nach erfährt der Zuschauer die ungeheuerliche Wahrheit: Truman Burbank wurde als Kind von einer Firma adoptiert, die ihn in der künstlichen Stadt Seahaven aufwachsen ließ; umgeben von Schauspielern und nonstop gefilmt. Das Drama seines täglichen Lebens hat ihn ohne sein Wissen zu einem Serienhelden für Millionen von Zuschauern gemacht – vom ersten Wort über den ersten Kuss bis zum ersten Job. Jede Episode seines Lebens