Wahrheit und Verschwörung. Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist. Jan Skudlarek
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Und:
»Pozner, für dich ist ein besonderer Platz in der Hölle reserviert. Nimm die Beine besser in die Hand, bevor wir dich finden.«
Manche sagen, dass sein Kind dort gar nicht gestorben ist. Schreiben das Wort »tot« in Anführungszeichen. Andere behaupten, dass Pozner nie ein Kind gehabt habe. Dass er gar nicht Pozner heiße. Sie bezeichnen ihn als »Arschloch«, »Lügner«, »Betrüger« – oder wundern sich, wie eine solche erfundene, »fiktive Person« sich vor Gericht gegen Beleidigung und Bedrohungen wehren kann. Alles Zuschriften, die ihre theoretische Grundlage in der Vorstellungswelt von »Fake News« und »Lügenpresse« finden. Es ist die Wut der scheinbar Getäuschten. Dass sie keine handfesten Beweise für eine Täuschung haben, stört sie dabei nicht.
Immerhin gab es Konsequenzen für die Hasstiraden. Ein Professor wurde deswegen gefeuert. Eine Frau musste ins Gefängnis. Selbst Verschwörungstheoretiker werden bisweilen von der Wirklichkeit eingeholt.
Internet und Echtheit
Einen wichtigen Bereich haben wir noch nicht angesprochen: digitale Echtheit. Polizisten, Diamanten und Zeugnisse müssen wir nur in Ausnahmefällen auf ihre Echtheit hin überprüfen. Doch Echtheitsfragen sind im 21. Jahrhundert durchaus Alltagsfragen, die wir uns mehr oder minder bewusst stellen. Vor allem im Internet ist Zweifeln häufig sinnvoll. Zur Medienkompetenz gehört die Beantwortung der Frage: Was lese ich da gerade? Wer spricht mit mir? Ist das Gelesene aller Wahrscheinlichkeit nach wahr?
In Zeiten von Fake News, Stimmungsmache und Propaganda ist das nicht immer einfach. Fake-Accounts treten als echte Menschen auf – und werden in Wahrheit von Agitatoren betrieben, um gezielt Stimmung zu machen. Nicht nur, dass es manche sich als Absender aufspielende Menschen hinter Fake-Accounts gar nicht gibt; oft betreiben solche Stimmungsmacher eine Vielzahl von Fake-Accounts, zwischen denen sie hin- und herwechseln. Sehr wenige aktive Nutzer sind also für sehr viele Kommentare verantwortlich. Von den social bots gar nicht zu reden, also von künstlichen Accounts, die maschinell reagieren und Meinungen zu beeinflussen versuchen.
Und noch weiter: Vermeintliche Nachrichtenseiten werden in Wahrheit nicht von Journalisten, sondern von Privatpersonen betrieben. Ein paar Bilder drauf, dem Ganzen einen wohlklingenden Namen gegeben, Webseitenstruktur imitiert – und schon glauben viele Nutzer, es handele sich um eine echte Nachrichtenseite. (Klonen kann man nicht nur Lebewesen, sondern auch digitale Infrastrukturen.)
Als Nutzer und Leser muss ich mich fragen: Was sind die Eigenschaften dieser Nachrichtenseite? Dieses Facebook-Accounts? Kann ich etwas über die Geschichte dieser Nachrichtenseite, dieses Accounts herausfinden? Postet er erst seit gestern? Auch zu anderen Themen? Wie ist der Tonfall, wird sich wenigstens im Ansatz um eine anderslautende Sichtweise bemüht? Ist alles nur emotional? Oder auch sachlich fundiert? Aus einem solchen Fragenkatalog können wir Indizien ableiten, die uns helfen, digitale Echtheit von digitaler Unechtheit zu trennen. Wer Quellen nicht nennt, Nachrichten emotionalisiert, aus Kleinigkeiten Skandale ableitet – der sollte bei uns unter Verdacht stehen, keine Quelle »echter Nachrichten« oder Informationen zu sein. Täuschungsabsichten lassen sich indirekt ableiten.
Unsere kleine Theorie der Echtheit kann also im Digitalen angewendet werden. Es geht immer darum, Eigenschaften und Geschichte einer Sache in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.
Kleine Theorie der Echtheit
Wir fassen zusammen. »Echt« und »unecht« sind Begriffe, die ein Sprecher dafür nutzt, um die Wirklichkeit zu beschreiben. Grundlage ist die stoffliche und die soziale Wirklichkeit – oder eine Kombination aus beidem. Die stoffliche Wirklichkeit spielt in erster Linie dann eine Rolle, wenn wir uns auf Physisches beziehen. Ein Diamant ist dann ein echter Diamant, wenn er die Eigenschaften eines Diamanten hat. Gleiches gilt für echtes Leder, echtes Gold oder echten Champagner.
Echtheit zu erkennen, heißt Echtheit anzuerkennen. Dieses (An-)Erkennen ist nicht allein Angelegenheit des Sprechers. Ich kann Kunstleder nicht zu Leder machen, indem ich es »Leder« nenne anstelle von »Kunstleder«. Die Kriterien dafür, was echte Dinge sind und was nicht, sind überindividuell oder intersubjektiv. Überindividuell heißt: Es geht um Gemeinschaft und Kontext. Eine Gemeinschaft von Menschen entscheidet aus dem Zusammenhang heraus, was als echtes Gold gilt oder wer als echter Polizist.
Abstrakt formuliert können wir sagen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt.
Echtheit ist kollektive Echtheitszuschreibung. Dieses Anerkennen geschieht mit Bezug auf bestimmte Eigenschaften (»hat einen Schmelzpunkt von 1064 °C«, »ist Schaumwein aus der Champagne«, »hat die Ausbildung zum Polizisten erfolgreich absolviert« usw.).
Relevante Eigenschaften können auch soziale Eigenschaften sein.
Und die folgenden Merkmale sind wichtig, wenn wir über Echtheit philosophieren:
Geschichte. Ein echtes X kommt daher, »wo normalerweise Xe herkommen«. Diese Echtheitsgeschichte ist nicht zuletzt eine kausale. Echte Diamanten stammen aus der Natur, echtes Geld stammt vom Staat, echte Zeugnisse von Schulen und Universitäten. Stammen Zeugnisse oder Geld aus meinem persönlichen Drucker, sind sie nicht echt. Bastle ich mir meine Polizeiuniform selber, ist sie nicht echt. Wir müssen also etwas über die Herkunftsgeschichte von X erfahren, um auf dieser Grundlage einschätzen zu können, ob wir es als echtes X anerkennen sollten.
Eigenschaften. Unabhängig davon, ob es um echtes Gold, echtes Geld, echte Polizisten oder echte Attentatsopfer-Angehörige geht: Man muss bestimmte Eigenschaften aufweisen, um als Gold, Geld, Polizist oder Angehöriger zu gelten.
Zwischen Eigenschaften und Geschichte besteht dabei ein Zusammenhang. In der Regel: ein kausaler. Ein X hat deswegen diese und jene Beschaffenheit, weil es diese und jene Geschichte hat. Geschichte ist insofern Ursachengeschichte. Aber nicht nur. Eine Geschichte zu haben, heißt darüber hinaus, eine soziale Einbettung zu haben.
Wir ergänzen:
X gilt als echtes Y in der Gemeinschaft G, weil G dieses X als Y anerkennt. Diese Anerkennung ist nicht willkürlich. Geschichte und Eigenschaften von X sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Am Beispiel Champagner formuliert:
Veuve Clicquot (X) gilt als echter Champagner (Y) innerhalb der Gemeinschaft der Weinkenner (G), weil Weinkenner Veuve Clicquot als Champagner anerkennen. Handverlesene Trauben, Flaschengärung, ein streng abgegrenztes Anbaugebiet usw. sind Grundlage der Echtheitsanerkennung.
Oder am Beispiel Polizist formuliert:
Max Musterpolizist (X) gilt als echter Polizist (Y) innerhalb der Bundesrepublik Deutschland (G), weil die Bundesrepublik Deutschland und die Bürger Max Musterpolizist als Polizisten anerkennen. Eine körperliche und geistige Eignung, eine mehrjährige erfolgreiche Ausbildung usw. sind Grundlage dieser Echtheitsanerkennung.
Und aus der anderen Richtung gesehen:
Unechtheit steht in einer negativen Relation zum Original (oder auch: einer parasitären, wie ein Parasit, der von seinem Wirtstier lebt). Kunstleder ist vor allem eines nicht: echtes Leder.