Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder

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Engadiner Hochjagd - Gian Maria Calonder Ein Mord für Massimo Capaul

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abgeblasen«, erklärte er. »Der Staub greift angeblich das Hubschraubergetriebe an.«

      Er reichte Capaul eine babyweiche, klamme Hand.

      »So plötzlich?«, wunderte sich Barbla. »Die ›Heli Bernina‹ untersucht doch Bergstürze.«

      »Nicht unser Staub ist das Problem, sondern der Saharastaub. Den weht es zwar auch öfters hierher, aber nicht in dieser Menge. Franz sagt, er frisst sich ins Metall, und das Gewinde leiert aus, oder so ähnlich. Die beiden Hirten hat er noch ausgeflogen, aber jetzt macht er Feierabend.«

      Barbla verdrehte die Augen. »Che miseria! Also einmal mehr Plan B.« Sie ging zum Kastenwagen und griff zum Telefon.

      Capaul fragte: »Und wie geht dieser Plan B?«

      »B sco blöffar«, antwortete Roman. »B wie bluffen. Barbla gibt gleich die Meldung durch. In der heißen Phase einer Katastrophe muss jede Stunde eine Meldung raus, sonst steigt uns die Presse aufs Dach.«

      »Und wenn es nichts zu melden gibt?«

      »Eben blöffar«, sagte Roman. »Zusammen mit der Medienabteilung der Polizei in Chur fällt uns immer was ein. Steigen wir ein.«

      Barbla hängte schon wieder auf. »Anke sagt, das öffentliche Interesse hält sich in Grenzen. Wir haben schon so was wie ein Schlusskommuniqué formuliert. Um drei Uhr sollen wir uns noch mal melden.« Dann hielt sie Capaul die Beifahrertür auf. »Rutsch durch, ich muss als Erste raus.«

      Roman fuhr zum Bahnhof, dort stieg Barbla in ihr eigenes Auto um.

      »Und was tun wir jetzt?«, fragte ihn Capaul.

      »Die Geretteten befragen, ob sie Tumasch gesehen haben. Wir haben sie in der Crusch Alba hier in Lavin einquartiert.«

      Das Wirtshaus Crusch Alba lag am Dorfeingang. Es handelte sich um ein altes Engadinerhaus mit tief eingeschnittenen Fensternischen und Sgraffiti, welche eine kletternde Gämse und verschiedene geheimnisvolle Zeichen zeigten.

      Die Befragung war kurz und vergeblich. Die Wanderer – zwei neuseeländische Familien, die eigentlich schneeschuhwandern wollten – hatten den Tag auf dem Hüttenboden verbummelt und niemanden bemerkt, der weiter vorn im Tal Steine geschichtet hätte. Die Sennen ihrerseits hatten am Plan San Jon das Terrain sondiert, um vielleicht im kommenden Jahr dort einen Viehunterstand zu bauen. Auch sie waren also zu weit von der Stelle entfernt gewesen, an der Tumasch die Tage verbrachte.

      Inzwischen hatte Franz Fotos gemailt, die er vom Hubschrauber aus gemacht hatte. Roman und Capaul setzten sich in den Kastenwagen, um sie auf Romans Handy zu sichten. Keines gab irgendeinen Hinweis auf den Verbleib des Sonderlings.

      Um zwölf Uhr drehten sie das Radio an und hörten das Pressekommuniqué in den Nachrichten: »Bergabbruch im Engadin fordert mutmaßliches Todesopfer. Ein Felssturz am Linard Pitschen oberhalb von Lavin hat acht Wanderer und zwei Sennen über Nacht in der Val Lavinuoz eingeschlossen. Diese konnten heute früh unverletzt aus dem Krisengebiet geflogen werden. Die Suche nach dem verschollenen Einheimischen musste zwischenzeitlich eingestellt werden, da der Berg noch immer aktiv ist. Das mutmaßliche Opfer hatte sich zur Zeit des Niedergangs im Zentrum des Ablagerungsgebiets nahe der Alp d’Immez aufgehalten. Laut Meldung der Kantonspolizei Graubünden wurde der Sechsundfünfzigjährige mit hoher Wahrscheinlichkeit unter den Felsmassen begraben. An der Ostflanke des Linard Pitschen lösten sich am Dienstagabend rund dreißigtausend Kubikmeter Gestein und stürzten tausend Meter talwärts.«

      »Was für ein Unsinn«, wunderte sich Capaul. »Es wurde doch noch gar nicht gesucht. Und ob Tumasch dort war, wissen wir auch nicht mit Sicherheit.«

      »Natürlich haben wir gesucht«, sagte Roman und stieg aus dem Wagen, »vom Hubschrauber aus. Wir haben Fotos ausgewertet. Und wenn Tumaschs Frau sagt, er war in der Val Lavinuoz, dann war er auch dort. Komm, wir essen bei Emil.«

      »Aber da könnte doch jeder kommen«, schimpfte Capaul und ging ihm nach. »Ich höre im Radio, dass in der Gegend ein Bergsturz ist, schlage meinen Mann tot und behaupte, er ist dort oben umgekommen.«

      »Felssturz, nicht Bergsturz«, korrigierte Roman ruhig. »Und warum sollte Meta das tun? Sie hat ihn so viele Jahre ausgehalten. Jeder hätte verstanden, wenn sie Tumasch verlassen hätte. Was heißt ›verstanden‹. ›Geh‹, haben die Leute gesagt, ›mach was aus deinem Leben, du bist doch noch jung. Lass dich von diesem Krüppel nicht runterziehen.‹ Aber sie hat gesagt: ›Cla war mein Schicksal, und Tumasch ist mein Schicksal. Sein Schicksal wählt man nicht, und man weicht ihm auch nicht aus.‹ Cla, musst du wissen, war ihr Sohn. Er war noch ein halbes Kind, als er gestorben ist.«

      »Woran?«

      »Jagdunfall.«

      »Und wieso Krüppel?«

      »Tumasch hatte eine Gehbehinderung.«

      »Und was du über diese Meta und die Leute gesagt hast, woher weißt du das alles? Seid ihr befreundet?«

      »Nein, bei uns weiß man so was eben.«

      Inzwischen hatten sie das Hotel Piz Linard erreicht, einen rosafarbenen Jugendstilbau, der den Hauptplatz dominierte. Roman trat in die Gaststube, sagte im Vorbeigehen etwas zur Wirtstochter und steuerte den Stammtisch an. Sie waren die einzigen Gäste.

      »Trotzdem kann man doch kein Todesopfer melden, ehe man nicht die Leiche findet«, fing Capaul wieder an. »Dazu nur gerade einen einzigen Tag nach dem Unglück.«

      »Warum nicht?«, fragte Roman und schnappte sich eine Scheibe Brot vom Nebentisch. »Was sonst? Weißt du, wie lange es normalerweise dauert, bis ein Vermisster für tot erklärt wird? Fünf Jahre. Fünf lange Jahre wartet die Ehefrau darauf, sich Witwe nennen zu dürfen, fünf Jahre lang bekommt sie keine Entschädigung, keine Rente, darf nicht wieder heiraten, hat kein Grab, an dem sie trauern kann. Meta hat das Glück, dass Bondo erst ein gutes Jahr her und noch in allen Köpfen ist. Die Leichen dort wurden auch nie gefunden, aber weil keiner Zweifel an ihrem Tod hatte, ging alles sehr schnell. Innerhalb von ein paar Wochen wurden die Vermissten für tot erklärt, und die Versicherung konnte zahlen. Es hier genauso zu halten, ist das Geringste, das wir für Meta tun können.«

      Inzwischen hatte die Wirtstochter das Essen gebracht, für beide je einen Teller Capuns mit Salat und eine Karaffe Wasser. Offenbar hatte Roman schon beim Eintreten bestellt. Er schob sich die Serviette in den Hemdausschnitt und begann zu essen.

      Die gerollten und gefüllten Mangoldblätter sahen hervorragend aus, doch Capaul konnte das Essen nicht genießen. »So was liegt ganz einfach nicht in unserer Kompetenz«, ereiferte er sich. »Die Polizei klärt die Fakten, die Gerichte interpretieren sie. So habe ich es gelernt.«

      »Ein bisschen leiser bitte.« Roman tupfte sich den Mund ab. »Du hast ja recht, zumindest, was das Prinzip angeht. Nur sieht die Realität ganz anders aus: Die Gerichte sind völlig überlastet, Fälle werden verschleppt – nein, nicht einmal verschleppt, sie stauen sich einfach. Und warum? Weil die Gesetze nichts taugen. Sie sind das Problem, nicht der Vollzug. Weil sie schlicht nicht praktikabel sind. Die Gesetze werden eben nicht von Profis gemacht, nicht von Juristen und der Polizei, sondern von Politikern. Laien, die keine Ahnung von Tuten und Blasen haben. Und wir Profis baden das aus. Ich sage dir, ich habe mich krumm geschuftet, um dem ›Buchstaben des Gesetzes‹ zu genügen. Bis zum Burn-out. Ja, ich war ein halbes Jahr weg vom Fenster. Und Barbla hat Kinder. Erzähl du uns nichts von Kompetenzen. Wir haben Kompetenzen. Und glaub mir, es ist allen gedient, den Bürgern genauso wie der Justiz

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