Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder
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Читать онлайн книгу Engadiner Hochjagd - Gian Maria Calonder страница 6
»Na schön, dann kommen Sie.«
Freitag bückte sich unter der Abschrankung hindurch und stieg voran. Er hatte einen starken Körpergeruch, gegen das auch sein Deodorant nicht ankam. Die ersten Wegschlaufen waren steil, und Capaul wunderte sich, wie Tumasch mit seiner Gehbehinderung täglich hoch- und wieder heruntergekommen sein sollte. Erst als sie das Steilstück überwunden hatten, sah er, dass von der Kirche her eine Schotterstraße hochführte.
Sie kamen in den Wald, es duftete nach gefallenem Laub und dürrem Holz. Doch auch hier verklebte der Staub die Schleimhäute. Nachdem Capaul zu Freitag aufgeschlossen hatte, fragte er: »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Bergsturz und einem Felssturz?«
»Die Masse und die Fließgeschwindigkeit. Der Bergsturz ist größer, entsprechend sind die Kräfte ganz andere. Rutschendes Gestein verhält sich ähnlich wie Wasser. Verbindet es sich dazu tatsächlich mit Wasser, indem das Gestein etwa in einen Bergsee stürzt und eine Flutwelle auslöst, erreicht die Geröllmasse eine Geschwindigkeit von bis zu hundert Stundenkilometern.«
»War das in Bondo der Fall?«
»So ähnlich. Noch schlimmer wird es, wenn Eis mit abbricht. Es wird durch den Druck beim Aufprall verflüssigt oder verdampft gar, und auf diesem Dampfkissen gleitet der Schutt wie ein Luftkissenfahrzeug.«
»All das war hier aber nicht der Fall.«
»Nein, der Felssturz von gestern war überraschend, aber weitgehend harmlos – wenn man bei einem Toten noch von ›harmlos‹ sprechen kann. Was mich erschreckt, ist der Zeitpunkt. Die Ostflanke des Linard Pitschen ist schon länger lose, allerdings spottet der Berg mit der Geschwindigkeit, in der er zerfällt, allen Prognosen.«
»Zerfällt?«
Freitag antwortete nicht. Er öffnete seinen Rucksack, zog eine altmodische Blechflasche heraus, spülte den Mund aus und trank sie leer. Capaul nutzte die Gelegenheit, sich kurz auf einen flechtenbewachsenen Stein zu setzen und den Blick schweifen zu lassen. Sie hatten den Wald verlassen, vor ihnen lag die Val Lavinuoz mit ihrem handtuchschmalen Talboden, durch den sich das Bächlein Lavinuoz schlängelte. Daneben stiegen die Hänge steil an, ein, zwei Kilometer hoch.
»Ja, zerfällt«, sagte Freitag. »In fünfzig Jahren werden die Alpen ein völlig anderes Gesicht haben. Sagt Ihnen das Wort ›Permafrost‹ etwas?«
»Ich habe eine ungefähre Ahnung.«
»Die Berge sind in ihrem Inneren und in den oberen Lagen permanent gefroren. Die Sommer waren bisher zu kurz, die Durchschnittstemperaturen zu tief, als dass die Berge auftauen konnten. Das ändert sich nun mit der Klimaerwärmung, sehr plötzlich und mit weitreichenden Folgen. Der Frost hält nämlich Massen von losem Gestein zusammen. Bleibt er aus, rutscht es ab. Der Frost dichtet außerdem den Berg nach außen ab, macht ihn quasi wasserdicht. Regen und Tauwasser prallen ab. Nun aber dringt das Wasser immer tiefer in den Berg ein, in den unteren Lagen entsteht auf diese Weise enormer Druck, der den Berg sprengt. Das alles wussten wir Wissenschaftler zwar, nur gingen wir davon aus, dass der Prozess Jahrhunderte dauern würde. Offenbar haben wir uns geirrt.«
Er setzte sich wieder in Bewegung. Capaul stemmte sich hoch und folgte ihm.
»Ein dritter Faktor«, erklärte Freitag, »ist die Gletscherschmelze. Seit der Klimaerwärmung schmelzen in den Alpen jedes Jahr zwei Millionen Kubikmeter Eis. Die Gletscherzungen schrumpfen rasant. Sie hatten ebenfalls viel Geröll gebunden, man könnte sagen, bei ihrer Entstehung sind sie auf dem Geröll gefahren und haben es nicht nur eingefroren, bei dieser Fahrt haben sich unterm Gletscher auch immense Wälle und Aufhäufungen gebildet. Schmilzt er nun weg, liegen diese Aufhäufungen frei, und falls ihre Lage instabil ist, haben wir Steinschlag, Erdrutsche, Lawinen. Dazu kommt, dass sich durch die Schmelze neue Seen bilden, die zwar hübsch anzusehen sind, aber es sind Todesfallen. Stürzt nämlich so ein Wall in den See, löst er eine Flutwelle aus, die ein Dorf wie Lavin durchaus auslöschen könnte.«
Freitag hatte angehalten und zeigte auf zwei Bergspitzen. »Da zum Beispiel, sehen Sie? Das sind der Piz Chapütschin und das Verstanclahorn, zwei Dreitausender mit sehr schönen Gletschern. Darunter liegt die Hütte Marangun, von wo heute früh die Wanderer ausgeflogen worden sind. Ich wette, in ein paar Jahren gibt es diese Hütte nicht mehr.« Er öffnete abermals den Rucksack und zog den Helm und ein Fernglas heraus. »Und jetzt ist es Zeit, Lebewohl zu sagen. Weiter nehme ich Sie nicht mit.«
Vor ihnen lag eine karge, doch hübsche Landschaft, bewachsen mit Lärchen, Vogelbeerbüschen und hohen, inzwischen verdorrten Disteln, zwischen denen Falter flatterten. Abgesehen von der Staubwolke, die noch immer über dem Tal lag, wirkte sie völlig friedlich. Capaul wies auf zwei Häuser. »Ein paar Fragen müssen Sie mir noch gönnen. Ist das die Alp d’Immez?«
Freitag nickte.
»Und wo genau war der Felssturz?«
Die Stelle, auf die Freitag zeigte, wirkte unbedeutend klein in der Weite der Landschaft.
»Und da gehen Sie jetzt hin?«
»Nein, ich steige auf den Gegenhang, von dort aus sehe ich die Abbruchstelle.«
»Können Sie mir noch sagen, wo genau Tumasch seine Steinmännchen gebaut hat?«
»Von Steinmännchen weiß ich nichts, aber ein Mann hat dort Haufen aufgeschichtet, genau da, an der Stelle, die jetzt verschüttet ist. Ich habe ihn einmal darauf aufmerksam gemacht, dass er sich die gefährlichste Stelle überhaupt ausgesucht hat.«
»Und was hat er geantwortet?«
»›Was wollen Sie? Ich räume Geröll weg. Das kann ich nur dort wegräumen, wo es rollt. Und fragen Sie die Leute im Dorf, wird Ihnen jeder sagen: Wenn es um einen von uns nicht schade ist, dann um Tumasch.‹«
»Tun Sie mir den Gefallen und halten nach ihm Ausschau?«
»Ausschau?« Freitag lachte. »Der Schuttkegel mag von hier nach nichts aussehen. Aber ich schätze, dort liegen zehn bis fünfzehn Meter Abbruchmaterial. Da wittern wohl nicht einmal mehr Suchhunde etwas.«
Er hob die Hand zum Gruß und wollte gehen. Eben da pfiff ein Murmeltier, ein zweites antwortete.
»Die sollten längst Winterschlaf halten«, stellte er fest. »Vermutlich hat sie der Felssturz geweckt. Alles gerät durcheinander.«
»Alles?«
»Ja, weil alles zusammenhängt.«
»Auch der Saharawind und dieser Felssturz?«
»Natürlich, doppelt und dreifach. Jede Wärmeperiode, und besonders eine so spät im Jahr, hat Einfluss auf den Permafrost und damit auf den Felsabbruch. Beide sind Kinder der Klimaerwärmung. Mit zunehmender Erwärmung der Polkappen wird auch der Jetstream abgeschwächt, jenes horizontale Windband, das auf der Höhe Mitteleuropas den Globus umzieht. Das hat zwei Folgen: Hoch- und Tiefdruckzentren bleiben stationär, statt zu wandern, das fördert Extremereignisse wie Dürren oder Flutkatastrophen. Und vertikale Winde – Eiswinde aus dem Norden, Glutwinde aus dem Süden – werden nicht mehr abgelenkt, sondern treffen uns mit ganzer Wucht. Momentan bestimmt ein Tief über Spanien unser Wetter. Und es sieht nicht aus, als ob es bald weiterwandern würde. Gut möglich, dass der Wüstenwind noch zwei, drei Wochen bei uns bläst. Aber jetzt muss ich wirklich los, die Tage sind schon sehr kurz.«
Wieder