Politisches Storytelling. Michael Müller

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Politisches Storytelling - Michael Müller Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses

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Lukas Bärfuss, dessen Ausruf »Hört auf mit euren Geschichten!« Jonas Lüscher kritisch in seinen Poetikvorlesungen zitiert (LÜSCHER 2020: 18) – immer noch ein gutes Stück Skepsis gegen das Erzählen kultivieren. Im Journalismus hat der Ruf des Erzählens, der auch hier in den letzten 10 bis 20 Jahren in Blüte stand, mit dem erwähnten Relotius-Sandal im Dezember 2018 einen Dämpfer erhalten. In Marketing und PR erlebt das Storytelling einen Boom, in den sich jedoch auch kritische Stimmen mischen: Wenn alle auf Teufel komm raus ihre Geschichten erzählen, ist Storytelling dann noch geeignet, einen Unterschied im Krieg um die Aufmerksamkeit zu machen? Über diese Formen eines reinen ›Storytelling‹ hinaus werden narrative Ansätze in der Medizin, in Psychotherapie und Coaching, in der Ökonomie, in der Organisationstheorie, in der gesellschaftlichen und politischen Diskursanalyse entdeckt. Die Aufmerksamkeit für das Erzählen, die Geschichten und die Narrative und was man damit alles machen kann, ist also in den letzten Jahren stark gestiegen – mit positiven wie negativen Ausprägungen. Die positiven Annahmen zum Erzählen berufen sich, wie erwähnt, auf neuere Erkenntnisse von Hirnforschung und narrativer Psychologie, die negativen neben dem ebenfalls erwähnten Überdruss vor der Ubiquität der ›Buzzwords‹ vor allem auf den Verdacht, Geschichten seien manipulativ, bzw. mit Geschichten könne man besonders gut manipulieren. Gerade an diesem Manipulationsverdacht machen sich wohl vor allem auch die Bewertungen von ›Storytelling‹ im politischen Raum fest: Einerseits das Unbehagen, sich des Verdachts der Manipulation ausgesetzt zu sehen, andererseits jedoch auch die Einsicht in die Notwendigkeit der Manipulation – wenn man diesen Begriff einmal als wertfrei betrachtet, als ein Mittel, Realitätskonzepte so zu konstruieren, dass sie Menschen anspricht. Ich werde in diesem Buch auch darauf eingehen, was ›Manipulation‹ im Zusammenhang mit dem Erzählen bedeuten kann. Nur soviel vorab: Die Vorstellung von einer Kommunikation, die absichtslos nur von ›Wahrheiten‹ handelt, ist pure Fiktion. Es gibt keine kontextlose Wahrheit, Annahmen über die Realität sind immer die einer bestimmten Person, einer bestimmten Gruppe. Eine Geschichte zu erzählen bedeutet daher immer, sie aus einer bestimmten Perspektive zu erzählen. Wenn mir das als Rezipient bewusst ist, habe ich Distanz zwischen die Geschichte und mich gelegt und bin weniger manipulierbar (wenn man Manipulation einmal so versteht, dass jemand unbemerkt zu einem Handeln gebracht wird, das er von sich aus so nicht ausführen würde).

      Geschichten, Storys, Narrative – ich werde auf die unterschiedlichen Bedeutungen dieser Begriffe noch eingehen –, sind ein wesentlicher, unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Gesellschaften, und zwar jeder menschlichen Gesellschaft, ob in der Antike oder heute – auch wenn es uns oft so vorkommt, als ob erst unsere ›Mediengesellschaft‹ nach Geschichten verrückt sei. Natürlich wurde immer erzählt: Klischeehaft denken wir an die Lagerfeuer der Höhlenbewohner oder an die bäuerlichen Kachelöfen an langen Winterabenden. Über dieses unterhaltende oder belehrende Erzählen hinaus bilden aber Geschichten, narrative Strukturen, auch eine wesentliche Klammer, die Gesellschaften, Gruppen, Völker oder Kulturen zusammenhalten. Mythische oder religiöse Erzählungen über die Entstehung der Welt, der eigenen Gruppe oder der Regeln, nach denen wir leben, definieren Gesellschaften oder Gruppen: Woher kommen ›wir, die Griechen‹ (im Gegensatz zu den Barbaren) warum sind wir das auserwählte Volk, wie eint uns der Glaube an einen Gott und die Geschichten, die sich um ihn ranken, oder wie entstand die Demokratie und mit der Aufklärung das Wertesystem, dem wir uns als kultureller ›Westen‹ verpflichtet fühlen? All dies beruht auf Geschichten, Erzählungen, Narrativen, die eine Gruppe oder Gesellschaft teilt und über die sie sich definiert. Dabei gibt es eher inkludierende narrative Systeme, die relativ offen sind für Menschen, die Teil davon werden wollen, und eher exkludierende, die eine starke Grenze etablieren und damit die meisten Menschen ausschließen. Das klassische Narrativ der USA als Einwanderungsland, in dem jeder sein Glück suchen kann, ist ein inkludierendes, das Trump in ein exkludierendes zu verwandeln sucht. Viele Religionen sind einerseits inkludierende Story-Welten, wenn es um die Missionierung ›heidnischer‹ Völker geht, und zugleich exkludierende, wenn es gilt, Häretiker, Abweichler, Regelbrecher im Inneren auszuschließen (historisch häufig final). Und es gibt eher offene gesellschafts-konstituierende Story-Welten und eher geschlossene. Offene narrative Systeme sind solche, die nur wenige Basis-Narrative oder Geschichten voraussetzen, um Gemeinsamkeit zu schaffen und ansonsten ganze Bündel inkludierender Sinn-Narrative zulassen, solange sie nur mit dem Basis-Narrativ kompatibel sind. Geschlossene Story-Welten dagegen sind solche, die den Glauben oder zumindest die Akzeptanz eines ganz genau festgelegten Geschichten-Systems voraussetzen, um Zugehörigkeit zu definieren. Das ›christliche Abendland‹ des Mittelalters war ganz klar ein geschlossenes narratives System (man musste genau die Geschichten (und ›Wahrheiten‹), die in der Bibel standen, für zutreffend (oder tatsächlich geschehen) halten, und zwar alle, und nur sie. Unsere Gesellschaft ist eher offen, ›offiziell‹ gibt es nur wenige grundlegende Werte, Auffassungen und Narrative, deren Akzeptanz tatsächlich vorausgesetzt wird, etwa die Menschenrechte, das Grundgesetz und die Tradition eines aufklärerischen Liberalismus (ich meine hier explizit nicht den Wirtschaftsliberalismus!). Von konservativer und vor allem von rechtspopulistischer Seite wird in den letzten Jahren verstärkt diskutiert, wie offen wir eigentlich sein wollen: Fragen wie die, ob der Islam zu Deutschland gehört, schließen potenziell nicht nur Menschen islamischen Glaubens aus, sondern implizieren – in der Aktivierung des alten europäischen Narrativs vom Kampf des Islam gegen das Christentum –, dass das Christentum dagegen zu Deutschland gehört, und letztlich eine Inklusionsvoraussetzung ist. Auch Begriffe wie die des »Biodeutschen« (Biofranzosen, Biopolens, etc.) implizieren, dass Dazugehören über ein historisches Narrativ der Abstammung definiert sei. Dies ist übrigens ein besonders exkludierendes Narrativ, da es für nicht Dazugehörende niemals einholbar ist: Eine deutsche Abstammungsreihe kann ich, anders als eine Religionszugehörigkeit, als Neubürger niemals erreichen.

      Politisches Storytelling in einem weiten Sinn bedeutet also auch die Erkenntnis, dass Geschichten, Narrative immer schon da sind: Unsere Welt, unsere Gesellschaft ist alles, was erzählt wird. Es sind die Narrative und Geschichten, in die wir hineingeboren, mit denen wir aufgewachsen sind, die wir selbst erlebt oder über die Medien rezipiert und die wir vielleicht auch ein wenig selbst mitgestaltet haben. Und die unsere Gesellschaft, ihre Überzeugungen und Werte, ihre Sinnangebote und Zukunftsvorstellungen ganz wesentlich definieren. Wir sind In Geschichten verstrickt, wie es der Philosoph Wilhelm Schapp in seinem Buchtitel (SCHAPP 42004) formulierte.

      Politische Willens- und Meinungsbildung und gesellschaftliche Diskurse spielen auf dieser Klaviatur der Geschichten, Narrative und Meta-Narrative, ob sie wollen oder nicht, ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Wesentlicher Teil jedes politischen Handelns ist der Umgang mit Geschichten und Narrativen. Auch wer glaubt, man könne rein mit Argumenten Gesellschaft verändern oder politische Willensbildung betreiben, arbeitet in Wirklichkeit auf dem Humus der Narrative und vielleicht lässt er mit seinen Argumenten eine Saite mitklingen, die die Melodie eines alten Narrativs oder eines, das gerade im Trend ist, spielen kann. Man kann all die Geschichten, in die wir verstrickt sind, wahrzunehmen und zu analysieren versuchen oder man kann sie ignorieren – da sind sie allemal.

      Das Misstrauen oder die Reserviertheit gegenüber Geschichten rührt meiner Einsicht nach hauptsächlich daher, weil in unserer Gesellschaft ›narrative Kompetenz‹ unterrepräsentiert ist, auch bei Journalisten, vor allem aber bei Politikern und anderen gesellschaftlichen Gruppen, die relevante Diskurse mittragen. Unter ›narrativer Kompetenz‹ verstehe ich nicht so sehr die Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können, sondern zu wissen, welche Funktionen Geschichten und Narrative in gesellschaftlichen Diskursen übernehmen, wie Sinn und Werte auch und vor allem durch Narrative etabliert und kommuniziert werden und was die Stellschrauben sind, an denen an Geschichten gedreht werden kann, um, positiv ausgedrückt, politische Meinungsbildung zu betreiben, oder negativ formuliert, zu manipulieren. Denn wie ich noch ausführen werde, benutzen beide Handlungsweisen die gleichen Werkzeuge. Entscheidend ist jedoch, mit welcher ethischen Haltung das geschieht. Meine Plädoyers für Schritte in Richtung der Rettung des politischen Diskurses – unter diesem Titel erscheint ja diese Buchreihe – sind daher folgende:

      •Wir müssen uns klar machen, dass gesellschaftliche Diskurse, politische Meinungs- und Willensbildung, politische und gesellschaftliche Sinn- und Wertestiftung

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