Aristoteles. Eine Einführung. Wolfgang Detel

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Aristoteles. Eine Einführung - Wolfgang Detel страница 5

Aristoteles. Eine Einführung - Wolfgang Detel Reclams Universal-Bibliothek

Скачать книгу

Mittelbegriffen anfüllen (APo. I 23). Wenn die Analyse eines universellen syllogistischen Satzes mehr als einen Schritt enthält, können wir übrigens aus den gefundenen Prämissen weitere Sätze neben dem Ausgangssatz logisch ableiten, z. B. aus den in (v) aufgeführten Prämissen den Satz DaB, und aus den in (vi) aufgeführten Prämissen den Satz EaB.

      Die weitreichenden wissenschaftstheoretischen Konsequenzen dieses analytischen Verfahrens in den Wissenschaften können wir allerdings erst dann sehen, wenn wir uns klar machen, dass diese Analysen kein logisches Spiel sind, sondern sich auf universelle empirische Fakten in der Welt beziehen. Wenn wir also in unserer Analyse mit einem universellen oder auch partikulären Satz etwa der Form AaB oder AiB starten, so muss es sich um einen Satz handeln, den wir für empirisch wahr halten – z. B. den Satz (a) »Geräusch (A) kommt allen Formen des Donners (B) zu« oder den Satz (b) »Eklipse (A) kommt einigen Mondstellungen (B) zu« (APo. II 8). Und wenn wir in unserer Analyse einen Mittelbegriff C für Prämissen AaC und CaB bzw. AaC und CiB finden müssen, dann muss es sich [28]ebenfalls um Sätze handeln, die wir für wahr halten, von denen wir also glauben, dass sie universelle oder partikuläre Fakten in der empirischen Welt beschreiben – und das zu entscheiden ist Sache empirischer wissenschaftlicher Forschung, nicht formaler logischer Beweise. Es gab, wie Aristoteles berichtet, zu seiner Zeit die Vorschläge, zu Satz (a) den Mittelbegriff C als »Erlöschen des Feuers in den Wolken« und zu Satz (b) als »Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond« zu bestimmen. Damit wurde behauptet, es sei empirisch wahr, dass gilt: (c) Geräusch kommt allem Erlöschen von Feuer in den Wolken zu; (d) Erlöschen von Feuer kommt allen Formen des Donners zu; (e) Eklipse kommt jedem Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond zu, und (f) Dazwischentreten der Sonne zwischen Erde und Mond kommt einigen Mondstellungen zu. Wenn wir die empirischen Sätze (c) bis (f) tatsächlich für wahr halten dürfen, dann haben wir (a) in (c) und (d) sowie (b) in (e) und (f) analysiert, denn (c), (d) ⇒ (a) und (e), (f) ⇒ (b) sind offensichtlich syllogistisch gültige Schlüsse.

      Empirische Anwendungen von Analysen dieser Art machen verständlich, warum Aristoteles fordern muss, dass der erste Schritt bei der Etablierung einer angemessenen wissenschaftlichen Theorie darin besteht, universelle empirische Fakten festzustellen. Und wir haben ein empirisches universelles Faktum der Art AaB festgestellt, wenn wir so viele B-Dinge wie möglich empirisch untersucht und herausgefunden haben, dass jedes untersuchte B-Ding die Eigenschaft A hat. Die Aufzählung endlich vieler solcher Beispiele in einer Liste nennt Aristoteles »Anführung«; das ist seine Auffassung von »Induktion«. Eine [29]induktive endliche Liste ohne Gegenbeispiel ist dann natürlich ein exzellenter Grund dafür, den universellen Satz AaB (»Alle B-Dinge sind A« oder »A kommt allen Bs zu«) für wahr zu halten (Aristoteles redet hier allerdings nicht von einem induktiven Schluss). Erst die Fakten, dann die Erklärung – das ist die Devise, die Aristoteles nicht müde wird zu betonen (APo. II 1–2). So hat er auch selbst ein großes biologisches Werk verfasst, das eine reine Faktensammlung beinhaltet und sich aller Analysen und Erklärungen enthält – die Historia Animalium (die Erkundung der Tiere) in zehn Büchern.

      Doch welche Rolle spielt die empirische Erfahrung für die Konstatierung empirischer Regularitäten und Prinzipien genauer? Nach Aristoteles entsteht die empirische Erfahrung in vier kognitiven Schritten (APo. II 19):

      (1) Wahrnehmung: das Erfassen und Unterscheiden verschiedener Qualia (etwa das Gelbe, Große, Kalte oder Bewegte).

      (2) Speicherung und Erinnerung an vergangene Wahrnehmungen der Stufe 1.

      (3) Induktion, empirische Erfahrung: Mengen singulärer Fakten der Form »x ist B« (geschrieben B(x)), wobei Träger x und Eigenschaft B auseinandertreten und die verschiedenen Instanzen B(x), B(y), B(z) (oft auch in der komplexen Form B(x) ⇒ A(x), B(y) ⇒ A(y), B(z) ⇒ A(z) …) als ähnlich empfunden werden. Dabei kommt das B und gegebenenfalls das A in der Seele zum Stehen.

      (4) Wissen, Einsicht: Vernetzung der empirischen Erfahrung durch logische Analyse.

      [30]Diese Stufen folgen genetisch aufeinander, stellen also eine genetische Epistemologie dar. Die Stufen 1 bis 3 sind kognitive Prozesse auf nicht-sprachlicher Ebene, die dem Wahrnehmungsprozess inhärent sind.

      Aristoteles ringt an dieser Stelle mit einem ewigen Problem der Wahrnehmungstheorie und des Empirismus: Inwieweit greifen in einen zunächst passiv verstandenen Wahrnehmungsprozess strukturierende Mechanismen ein? Die genetische Epistemologie spiegelt die bedeutende Einsicht, dass empirische Erkenntnis auf der grundlegendsten Ebene nicht auf Prozessen beruht, die sich in Begriffen von Sprache, Logik und Begründung fassen lassen, sondern auf eingespielten und verlässlichen natürlichen Prozessen (die aus heutiger Sicht Strukturerfassung, Merkmalanalyse und Gestaltgesetze umfassen). Damit sind für Aristoteles die tiefsten Grundlagen des Empirismus skizziert.

      Wenn nun auf diese Weise für einen bestimmten Gegenstandsbereich möglichst viele Fakten gesammelt und mittels Induktionen in Behauptungen über universelle Fakten überführt worden sind, muss für den Aufbau einer guten Theorie in einem zweiten Schritt die Analyse und Synthese dieser Fakten erfolgen. Damit werden die Sätze über gefundene Fakten, wie beschrieben, in eine logische Ordnung gebracht. Es ist von großer Bedeutung, dass die Analyse grundsätzlich eine Bottom-up-Prozedur ist – von den Konklusionen hoch zu den Prämissen und gegebenenfalls zu den Prämissen der Prämissen, bis wir zu den unvermittelten Prämissen gelangen. (In der Syllogistik wurden die Zeilen formaler Beweise, wie in der heutigen Logik und Mathematik, vertikal von den höchsten Prämissen bis hinunter zur Konklusion geschrieben.) Diese Prozedur stellt [31]kein logisches Verfahren dar, denn im Allgemeinen können wir nicht von den Konklusionen rein logisch auf die Prämissen schließen. Vielmehr handelt es sich um eine kreative Theorienkonstruktion. Allerdings unterliegt die Auffindung der Prämissen zu einem gegebenen universellen Satz der logischen Bedingung, dass diese Prämissen den gegebenen Satz logisch herzuleiten gestatten. Diese logische Herleitung wurde später auch Synthese genannt, weil sie den gegebenen Satz, etwa AaB, aus den Prämissen, etwa AaC und CaB, »zusammensetzt«, z. B. in der Form A(a) – AaC, CaB – B. Eine vollzogene Analyse enthält also bereits einen Teil der Synthese, die dadurch komplettiert wird, dass wir aus den gefundenen Prämissen möglichst viele weitere Konklusionen über die Ausgangssätze hinaus ableiten. Dadurch entsteht ein komplexes logisches Netz von empirisch akzeptierten Sätzen über die Welt.

      Aristoteles nennt den epistemischen Zustand, in dem wir uns befinden, wenn wir die Analyse für einen Untersuchungsbereich abgeschlossen haben, Einsicht (nous) (Metaph. IX 10, An. III 6). Dieser epistemische Zustand beinhaltet unter anderem die Kenntnis der höchsten unvermittelten Prämissen, die in der Analyse auftauchen (APo. I 23; I 33). Aber es wäre grundfalsch zu sagen, dass das Vermögen der Einsicht die Fähigkeit ist, unvermittelt die höchsten Prämissen zu erfassen, aus denen dann »top-down« alle Theoreme der Theorie logisch abgeleitet werden. Die Einsicht entsteht nicht am Beginn einer Synthese ohne vorherige Analyse, sondern am Ende von Analyse und Synthese. Man könnte sagen, dass am Ende von Analyse und Synthese die Theoreme einer Theorie axiomatisiert worden sind, denn sie sind in eine logische Ordnung [32]gebracht. Aber es handelt sich nicht um eine Axiomatisierung im modernen Sinne, die mit der Idee verbunden ist, die Menge der obersten Prämissen möglichst klein zu halten und damit den gesamten Inhalt einer Theorie in wenigen Theoremen zu komprimieren. Eine analytische Axiomatisierung im aristotelischen Sinn wird ungefähr ebenso viele oberste Prämissen wie unterste Konklusionen enthalten (APo. I 32). Ihr Ziel ist nicht Komprimierung, sondern im Gegenteil analytische Entfaltung des Gehalts der komplexeren Theoreme, so dass wir durchschauen können, aus welchen Elementen unser Untersuchungsbereich besteht und wie er aus diesen Elementen zusammengesetzt ist. Die leitende Idee der klassischen antiken Philosophie zur allgemeinen Struktur des Wissens kommt in diesem Entwurf also voll zum Tragen und wird im Detail ausgearbeitet.

      Selbst eine vollständige und abgeschlossene Analyse und Synthese im bisher skizzierten Sinne bietet aber noch keine Erklärungen, denn sie verweist aus sich heraus noch nicht auf Ursachen. Zum Aufbau einer erklärungskräftigen Theorie ist jedoch auch die Erforschung der Ursachen erforderlich.

Скачать книгу