Die Unterwerfung der Frauen. John Stuart Mill
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In einigen Fällen liefert die allgemeine Verbreitung einer Praxis einen starken Grund dafür, dass sie löbliche Zwecke hat oder zumindest früher einmal hatte. Dies ist der Fall, wenn die Praxis zu löblichen Zwecken eingeführt oder aufrechterhalten worden ist und wenn die Erfahrung gezeigt hat, dass sich die Zwecke auf diese Weise am wirksamsten erreichen lassen. Wäre die Herrschaft der Männer über die Frauen bei ihrer ersten Einführung das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung zwischen verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Organisation gewesen; wäre, nachdem man verschiedene andere Formen der Organisation ausprobiert hatte – die Herrschaft der Frauen über die Männer, die Gleichheit zwischen beiden oder irgendwelche wie immer gearteten anderen gemischten Formen – auf der Grundlage der Erfahrung entschieden worden, dass diejenige Form, bei der die Frauen gänzlich der Herrschaft der Männer unterworfen sind und keinen Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten haben, und dass das Arrangement, [15]nach dem jede im Privatbereich gesetzlich zu Gehorsam gegenüber dem Mann verpflichtet ist, mit dem sie ihr Schicksal verbunden hat, am ehesten zum Glück und Wohlbefinden beider beiträgt; dann könnte man mit einigem Recht annehmen, dass seine allgemeine Annahme ein Hinweis darauf ist, dass sie zum Zeitpunkt seiner Annahme das Beste war – auch wenn die Gründe, die dafür sprachen, wie so viele andere in früheren Zeiten liegende gewichtige Gründe später, im Lauf der Jahrhunderte, nicht mehr bestanden. In der vorliegenden Frage verhält es sich allerdings genau umgekehrt. Erstens [264] beruht die Parteinahme für das gegenwärtige System, das das schwächere Geschlecht dem stärkeren vollständig unterordnet, lediglich auf Theorie: Ein anderes System ist niemals ausprobiert worden, so dass man von der Erfahrung – in dem Sinn, in dem sie gemeinhin der Theorie gegenüberstellt wird – nicht sagen kann, dass sie jemals ein Urteil gesprochen hätte. Zweitens war die Einführung des Systems der Ungleichheit niemals das Resultat von Überlegungen, Planungen, sozialen Ideen oder irgendwelchen anderen Erwägungen darüber, was dem Wohl der Menschheit oder einer guten gesellschaftlichen Ordnung förderlich wäre. Es verdankte seine Entstehung keinem anderen Umstand, als dass sich seit den frühesten Anfängen der Menschheit jede Frau (entsprechend dem ihr von den Männern beigemessenen Wert in Kombination mit ihrer Unterlegenheit an Körperkräften) in einem Zustand der Knechtschaft zu einem Mann befand. Gesetze und politische Systeme gehen stets von der Anerkennung der Beziehungen aus, die sie bei den Individuen vorfinden. Sie verwandeln das, was ursprünglich eine bloße Tatsache ist, in Recht, geben ihm die [16]Sanktion der Gesellschaft und trachten danach, die öffentliche und organisierte Aufrechterhaltung und Sicherung des Rechts an die Stelle ungeregelter und gesetzloser, mit physischer Kraft ausgetragener Konflikte zu setzen. Diejenigen, die bereits physisch zum Gehorsam gezwungen worden waren, wurden nun auch gesetzlich dazu verurteilt. So wurde die Sklaverei, die zunächst eine bloße Frage der physischen Kraft zwischen dem Herrn und dem Sklaven gewesen war, geregelt und zu einem vertraglich gesicherten Besitzstand von Herren gemacht, die sich zum gegenseitigen Schutz miteinander verbanden und sich ihren Privatbesitz einschließlich ihrer Sklaven mit ihrer vereinigten Kraft wechselseitig garantierten. In früheren Zeiten war die große Mehrzahl des männlichen Geschlechts Sklaven, ebenso wie das gesamte weibliche Geschlecht. Und es vergingen viele Jahrhunderte – darunter einige von hoher Kultur –, ehe ein Denker die Kühnheit hatte, die Rechtmäßigkeit und gesellschaftliche Notwendigkeit der einen oder der anderen Form von Sklaverei in Frage zu stellen. Nach und nach fanden sich solche Denker, und zumindest in allen Ländern des christlichen Europa ist die Sklaverei schließlich – u. a. im Zuge des allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts – abgeschafft (wenn auch in einem Land erst in den letzten Jahren) und die des weiblichen Geschlechts nach und nach in eine mildere Form der Abhängigkeit umgewandelt worden. Diese Abhängigkeit, wie sie gegenwärtig existiert, ist keine ursprüngliche Institution, die aus Erwägungen der Gerechtigkeit und der sozialen Nützlichkeit heraus entstanden wäre. Sie ist der weiterbestehende primitive Zustand der Sklaverei, nur gelindert und gemäßigt durch dieselben Ursachen, die die allgemeinen Sitten [17]gemildert und die zwischenmenschlichen Beziehungen stärker den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Humanität unterworfen haben. Sie trägt noch immer den Makel ihres brutalen Ursprungs. Aus der Tatsache ihrer Existenz kann deshalb kein Argument zu ihren Gunsten gemacht werden. Das Einzige, was man vielleicht zu ihren Gunsten anführen könnte, müsste sich darauf gründen, dass sie sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat, während so viele andere Sitten, die ihren Ursprung in derselben trüben Quelle haben, abgeschafft sind. Dieser Umstand führt dazu, dass die Behauptung, die Ungleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau habe keine andere Quelle als das Recht des Stärkeren, für die meisten Ohren seltsam klingt.
Der Anschein des Paradoxen dieser Behauptung ist in einigen Hinsichten dem Fortschritt der Zivilisation und der moralischen Gesinnungen der Menschheit zugutezuhalten. Wir – d. h. eine oder einige der am weitesten [265] fortgeschrittenen Nationen – befinden uns gegenwärtig in einem Zustand, in dem das Gesetz des Stärkeren als Prinzip gänzlich aufgegeben zu sein scheint. Niemand bekennt sich offen dazu, und in den meisten Beziehungen zwischen Menschen ist es unzulässig, nach ihm zu handeln. Tut es jemand dennoch, geschieht dies unter einem Vorwand, der ihm den Anschein gibt, er habe ein allgemeines gesellschaftliches Interesse auf seiner Seite. Angesichts dessen schmeichelt sich das Publikum, die Herrschaft der Gewalt sei ein für alle Mal beendet und das Gesetz des Stärkeren könne unmöglich der Grund für die Existenz von etwas sein, was bis auf den heutigen Tag mit unverminderter Kraft fortbesteht. Wie immer unsere gegenwärtigen Institutionen begonnen haben mögen, sie können sich, denkt [18]man, unmöglich bis zu unserer jetzigen Periode fortgeschrittener Zivilisation erhalten haben, wenn sie nicht gestützt würden durch ein wohlbegründetes Gefühl, dass sie zur menschlichen Natur passen und dem Allgemeinwohl förderlich sind. Man versteht nicht die große Vitalität und Dauerhaftigkeit von Institutionen, die das Recht auf die Seite der Macht setzen – wie stark man an ihnen hängt; wie weitgehend die guten und schlechten Neigungen und Gesinnungen der Mächtigen daran gemessen werden, wie weit sie an ihnen festhalten; wie lange es dauert, bis sie nach und nach absterben, zuerst die schwächsten, angefangen mit denen, die am wenigsten mit den täglichen Lebensgewohnheiten verwoben sind; und wie selten die Institutionen, die ihre Rechtskraft aufgrund physischer Kraft erlangt haben, diese verloren haben, bevor die physische Kraft auf die Gegenseite übergegangen ist. Ein solcher Übergang hat im Fall der Frauen nicht stattgefunden. Dieser Umstand hat es von Anfang an gewiss gemacht, dass diese Ausprägung des Gesetzes des Stärkeren – obwohl in ihren schlimmsten Aspekten zu einem früheren Zeitpunkt gemildert als andere – als letzte verschwindet. Es war unvermeidlich, dass von allen auf Macht gegründeten gesellschaftlichen Beziehungen diese eine alle anderen überdauern würde, durch Generationen hindurch, in denen die Institutionen ansonsten zunehmend auf Gleichheit und Gerechtigkeit gegründet worden sind, als eine singuläre Ausnahme vom allgemeinen Charakter der Gesetze und Sitten. Doch solange sie ihren Ursprung verleugnet und die öffentliche Diskussion ihren wahren Charakter nicht offenlegt, gilt sie als mit der modernen Zivilisation ebenso wenig unvereinbar wie die Sklaverei bei den [19]Griechen mit ihrem Selbstverständnis als Volk von freien Bürgern.
Die Wahrheit ist,