Der gefallene Engel. Theodor Kallifatides

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Der gefallene Engel - Theodor Kallifatides

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Theodor Kallifatides

      Für Gunilla

      Markus

      Johanna

      Stockholm 1981

      Zu Unrecht beklagt sich der Mensch darüber,

      daß er wegen seiner Gebrechlichkeit und Vergangenheit mehr vom Zufall beherrscht sei als von sich selbst.

      Sallust

Der gefallene Morgenstern

      1

      Ich lag im Gras und dachte: Wie werde ich frei? Wie kann ich es vermeiden, mich noch länger räumlich einzurichten, wie kann ich die Szenerie wechseln? Tätigkeit oder Ruhe?

      Es war ein milder Nachmittag, Anfang April. Über mir breitete sich der alte knorrige Apfelbaum, darüber himmlisch-reines Licht.

      Das Kind spielte ein bißchen weiter drüben in dem erwachenden Garten. Seine nackten, flaumigen Beine reflektierten das warme Licht des Nachmittags. Das Kind lief zum Kirschbaum, blieb dort einen Augenblick stehen und rannte dann zurück.

      Das Kind ist meine Tochter.

      Vor einer Woche ist sie fünf geworden. Ich habe Ohrringe für sie gekauft, kleine Lapissteine, die mir in einem unscheinbaren Geschäft in einer Nebenstraße Kopenhagens aufgefallen waren. Ich bin in das Geschäft gegangen und habe die Ohrringe gekauft, ohne eigentlich zu wissen weshalb, aber jetzt, wie ich so im Garten lag, irgendwie ausgeliefert – wußte ich es. Sie, deren Namen ich nun seit mehreren Jahren nicht in den Mund genommen habe, trug ähnliche Ohrringe, blaue Lapissteine, die sie ebenfalls von ihrem Vater bekommen hatte, im gleichen Alter wie meine Tochter, und vermutlich war sie dabei ebenso verlegen.

      Meine Tochter hatte mich lange angesehen, in ihren Augen sah ich die Schatten ihrer Gedanken, aber dann hatte sie mich auf den Mund geküßt und sie schmeckte nach Mandel. Am selben Abend, als sie glücklich und zufrieden allein in der Badewanne lag – sie bestand seit einiger Zeit darauf, allein in der Badewanne zu sein –, sah ich sie zufällig für einen Moment. Sie hatte sich aufgesetzt, vor ihr stand ein Spiegel mit rotem Rahmen, ihr Blick war weit weg und langsam strich sie ihr weiches Haar zurück, um die Ohrringe besser sehen zu können und gleichzeitig sich selbst, viele Jahre voraus.

      Ach diese Träume von einer Zeit, die immer vor uns liegt!

      Ich hatte den Blick gesenkt, ich war nicht in die Welt meiner Tochter eingedrungen – aber es hat weh getan in meinem Herzen, sehr weh. Ich dachte an meine Mutter, ich hatte in einem unbewachten Moment auch sie gesehen, wie sie vor einem Spiegel alterte, es war der kleine Spiegel mit dem goldenen Rahmen, der auf ihrem Nachttisch stand. Ich habe meine Mutter nie anschauen können ohne Furcht, ohne das Zittern, das man vor einem unterirdischen Gang bekommt, das gleiche Zittern, das ich immer ihr gegenüber verspürte, deren Namen ich seit mehreren Jahren nicht in den Mund genommen habe.

      Ich dachte an den sonnigen Tag, an dem sie und ich allein hinuntergestiegen sind in das Königsgrab auf Zypern. Wir waren damals Kinder oder fast noch Kinder. Die alte Insel, des Dichters «graugrünes, ins Meer geworfenes Blatt», war eben befreit worden, die englische Besatzungsmacht zog sich gerade zurück und der englische General räumte die Sommerresidenz, an deren Einrichtung Arthur Rimbaud als Schreiner mitgewirkt hatte.

      In dem königlichen Grab war es sehr still und dort oben, wo die Welt sich öffnet, war eben ein Krieg mit demselben traurigen Ergebnis wie immer zu Ende gegangen: da ist einer zum Sieger gekürt und ein anderer zum Verlierer gestempelt worden, aber eine Niederlage haben wir alle erlitten, auch sie und ich, so versteckt wir waren vor dem zyprischen Licht und dessen glänzenden Düften nach Zitrone, Pinie und Schießpulver.

      Im Grab war sonst niemand, nur sie und ich und noch eine Eidechse, die uns anstarrte, unbeweglich und aus weiter Ferne wie ein orientalisches Schicksal. Der Gesang der Nachtigall, der den Dichter nicht schlafen ließ, den Dichter, den wir so liebten, war nicht zu hören. Und sie fragte mich: «Woran denkst du?»

      Ich hatte nicht geantwortet, ich hatte nur ihre Hand gesucht in der kühlen Dunkelheit. Ihre Hand war geschlossen, sie fürchtete die Stille, die Zeit, das duftende Licht draußen, das uns eines Tages weggenommen würde; ihre Hand umschloß das letzte Sandkorn einer Zeit, die noch ihr und mir gehörte.

      Sie hatte mich gefragt: «Woran denkst du?» Ich hatte nicht geantwortet, dachte aber an meine Mutter. Das königliche Grab war wie eine Gebärmutter, ein wortloser und stummer Raum, in dem ich furchtbar lebendig war, ohne atmen zu müssen.

      An diesem Tag hatte ich sie noch nicht geküßt, an diesem Tag hatte sie mich noch nicht geküßt. An diesem Tag wußte ich noch nicht, daß es noch eine Gebärmutter gab, in der ich mein Leben leben konnte. Aber an diesem Tag, in der stillstehenden Zeit im königlichen Grab, küßte ich ihre Pulsader, die «kostbare Uhr» ihres Blutes, und sie duftete genau wie meine Tochter: nach Mandel.

      Seit diesem Tag habe ich mich immer nach ihr gesehnt, obwohl ich mehrere Jahre ihren Namen nicht in den Mund genommen habe, aber ihr Name stand vor und hinter jedem Satz, den ich geäußert hatte, ihr Name zitterte unter allen meinen Worten, war wie ein Vulkan, auf dessen Spitze ich mein Leben ein wenig einsam verbrachte, ein wenig mutig, aber stets zitternd; ich verbrachte mein Leben auf einem ungesagten Wort.

      Ich lag also an diesem milden Nachmittag Anfang April im Gras und dachte an meine Mutter, ich dachte an die ungenannte Frau und an meine Tochter: Grotten aus Fleisch und Blut, aus ersterer bin ich gekommen, zu letzterer bin ich geworden und in der mittleren sollte ich mein Leben leben.

      Die Hände auf den Kopf gestützt, sah ich dem Kinde zu, das meine Tochter ist und scheinbar ohne jede Absicht hin und her lief, wie ein Tagtraum, eine optische Täuschung. Das Gras hatte noch die aschgraue Tönung des beginnenden Frühlings, die grüne Farbe war noch nicht durchgebrochen, aber wenn man genau hinsah, konnte man den Farbansatz ahnen, die Grashalme wölbten sich unmerklich, wie eine Frau an dem Tag, an dem sie empfängt; aber noch war das Gras aschgrau, der Winter war lang und kalt gewesen, und der alte Apfelbaum mit seinen nackten Zweigen warf seinen dünnen Schatten auf mich.

      Mein Herz war stumm vor Sehnsucht und meine Gehirnzellen waren blockiert von einem einzigen Wort, das ich nicht laut auszusprechen wagte.

      Ein älteres Pärchen radelte an dem Garten vorbei, ich achtete nicht besonders auf sie, aber ich hörte die Frau: «Guck mal, wie die Knospen springen!» rief sie dem hinter ihr fahrenden Mann zu und in ihrer Stimme klang sowohl Triumph wie Rache, und ich weiß nicht, ob der Mann es bemerkte, aber er fuhr noch langsamer und beugte den Kopf tiefer. Der Frühling war nichts für ihn, seine Tür war verschlossen, er verschwand aus meinem Gesichtsfeld, noch ein Tagtraum, noch eine optische Täuschung.

      Die nackten Beine des Kindes standen auf einmal vor meinem Kopf. Die noch nicht völlig ausgeformten Zehen versanken im Gras, ich streichelte sie vorsichtig, die Haut war straff.

      «Warum rennst du so hin und her?»

      «Ich spiele!»

      «Was spielst du?»

      «Verstecken!»

      Ich hob den Kopf und begegnete dem Blick des Kindes. Sie warf den Kopf zurück, sie lachte, das schräge Licht verfing sich in ihrem Mund.

      «Und wen suchst du?»

      «Ich suche mich selber!»

      Dann lachte sie wieder und lief davon. Ich wollte ihr nachrufen, aber es war nicht der Name meiner Tochter, den meine

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