Der gefallene Engel. Theodor Kallifatides
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Читать онлайн книгу Der gefallene Engel - Theodor Kallifatides страница 4
«Um so besser!» und schon mit dem neuen Spiel begann. Wie neu ist das eigentlich? Zu reden ohne verstanden zu werden und ohne das zu erwarten?
Ich legte auf und ich merkte, daß meine Hände zitterten. Ich hatte diese Stimme über zehn Jahre nicht gehört, trotzdem hatte ich sie sofort wiedererkannt. Andreas hatte nämlich seinen Namen nicht gesagt, er hatte geredet, als setzte er ein Gespräch fort, das vor wenigen Minuten unterbrochen worden war.
War die Zeit nur ein Traum?
Aus der Küche rief meine Ehefrau, daß das Essen warte.
«Was gibt es?» wollte meine Tochter wissen.
«Komm, dann siehst du es!» antwortete meine Ehefrau, für die eine definitive Antwort dasselbe war wie für den Fisch das Netz, eine sehr traurige Tatsache also. Aber das Kind ließ sich nicht so leicht fangen. Es war nicht so ungeheuer begierig danach, zu sehen, was es gab, es war begierig danach, zu hören, was es gab, und es rührte sich nicht von der Stelle.
«Komm, wir wollen jetzt essen!» flüsterte ich ihr ins Ohr und ich hob sie hoch in die Luft, und das Gewicht ihres Körpers vermittelte mir ein exaktes Gefühl meiner Liebe zu ihr: auf Dauer war es unmöglich, sie zu tragen und unmöglich, sie zu verlieren.
Ich konnte nichts essen.
«Wer war es?» fragte meine Ehefrau.
«Ein alter Freund!» antwortete ich ausweichend. Wie sollte ich ihr oder irgendeinem andern erklären, wer Andreas war? Ich wußte es selbst kaum.
Es entstand ein beklemmendes Schweigen und so erklärte ich notdürftig Andreas’ Situation, ich sagte, ich müsse nach Arlanda fahren und ihn holen. Ich sah, wie das Liberale in ihr – «man muß seinen Freunden helfen» – mit dem Bürgerlichen – «man bleibt bei Tisch» – kämpfte, und wie immer gewann das Liberale.
«Natürlich mußt du fahren!» seufzte sie und brachte damit den besiegten Teil in sich zum Ausdruck.
Noch ein Abend, ein langer Abend stand ihr bevor, an dem sie angewiesen war auf sich selbst und auf das Kind, das inzwischen eifrig damit beschäftigt war, Milch über ihr Essen zu gießen.
«Hör auf damit!» protestierte meine Ehefrau und unser kleines Drama war beendet.
Ich mochte auch keine definitiven Antworten. Ich erinnere mich an damals, als Maria gefragt hatte, ob ich sie liebe. Ich hatte geantwortet «man könnte es als Arbeitshypothese in Betracht ziehen!» Zuerst war sie ziemlich blaß geworden, aber das hatte nicht lange gedauert. Sie hatte gleich darauf gelacht und erzählt, daß sie dieselbe Frage Andreas gestellt habe. «Und was hat er geantwortet?» – «Daß er gerne sein Leben für mich hingeben würde. Das Problem ist, daß ich sein Leben nicht haben will. Ich will deines!»
Andreas und sie waren sich sehr ähnlich. Beide waren gefühlsmäßig rücksichtslos und kannten keine Scham, sie betrachteten ihre Gefühle als ewig, wie momentan sie auch sein mochten. Sie hatten beide auf dieselbe geniale und erschreckende Weise keinerlei Perspektive.
Ich stand vom Tisch auf. Die Nacht war dunkler geworden, durch den Garten zog ein östlicher Wind; das war die Zeit des ersten Frühlings in den finnischen Wäldern, in denen die Frau, die meine Ehefrau wurde, aufgewachsen war, und in ihrem immer noch glücklichen Blick befand sich derselbe Glanz wie auf den Stämmen der Birken.
Ich hatte diesen Blick geliebt und ich liebte ihn immer, aber er war zunehmend seltener geworden. Wir hatten einige Tage in ihrem abgelegenen Dorf verbracht, wir waren einige Frühlingstage lang in einem Wald verborgen. Wir beobachteten, wie die Laubbäume zu knospen begannen, wie die Bäche und Wasserläufe anschwollen und kleine und große Eisklumpen mit sich führten.
Jeden Morgen unternahmen wir lange Spaziergänge und jeden Nachmittag brachte sie mir das Saunabaden bei, eine Zeremonie, die mich jedesmal an Descartes denken ließ. Er liebte es, in einem Backofen zu sitzen und nur in der Wärme des Backofens konnte er sich seinen Gedanken hingeben.
Aber ich bin nicht Descartes, ich liebte sicher auch die Wärme, aber Descartes bin ich nicht. Ich saß neben der Frau, die meine Ehefrau wurde, ich streichelte ab und zu ihre festen Beine und ich bat sie, vom Krieg zu erzählen. Hunderte von Deutschen, Finnen und Russen waren in diesen Wäldern bei harten Kämpfen gestorben, und dort verbargen nun sie und ich uns vor der Welt und wahrscheinlich auch voreinander.
«Woran denkst du?» fragte meine Ehefrau.
«Papa denkt sicher unablässig! Bekommst du davon nicht Kopfweh?» erkundigte sich meine Tochter.
«Papa ist es gewöhnt, zu denken, weißt du!» scherzte meine Ehefrau.
«Ich möchte auch gewöhnt sein!»
«Dann fang einfach an damit.»
«Was muß ich tun?»
«Schließ die Augen und versuche dich zu erinnern, wie zum Beispiel Lars vom Kinderhort aussieht!»
«Das ist nicht schwierig! Jetzt mach ich die Augen zu!»
«Na, wie sieht er aus?»
«Wie ein Pferd!»
Meine Ehefrau und ich lachten. Wir sahen uns an. Ihr Blick war scheu, ihr Blick war zerstört worden. Er wird nie mehr seine Unschuld wiederfinden; das dünne Häutchen aus Selbstvorwürfen, schlaflosen Nächten und dunklen Tagträumen wird immer zwischen ihr und mir sein wie ein Keuschheitsgürtel, dessen Schlüssel abhanden gekommen ist.
Seit der Fehlgeburt war meine Ehefrau verschlossen, scheinbar ein für allemal. Sie hatte ihre inneren Spiegel mit schwarzem Tuch verhängt, sie trauerte ganz allein und ganz still um ihre verlorene Freude. In ihr floß ein dunkles Wasser, ein unterirdischer See, und sie glitt über ihn wie ein Seeräuberschiff ohne Flagge in ihren eigenen, sorgfältig getarnten Hafen.
«Ich gehe jetzt...»
«Wird es spät werden?»
«Das kommt darauf an! Warte aber nicht auf mich!»
«Ich warte auf dich!» versicherte das Kind.
Beide würden sie auf mich warten, das Kind und die Frau, das wußte ich. Beide würden schlafen, wenn ich heimkomme, aber ihr Schlaf würde anders werden, sobald ich die Lampe im Flur entzünde und die Schuhe leise ausziehe, um sie nicht zu wecken, aber auch so laut, daß sie mein Heimkommen bemerken, wenn auch im Schlaf. Das Kind würde sich behaglich ausstrecken. Die Frau würde ihre Augen öffnen, ein bißchen wach werden und dann den Arm unter den Kopf legen und wieder einschlafen, nun beruhigt.
Was machen wir eigentlich miteinander? Schatten, Tagträume und Gewohnheiten. Was haben die Frau und das Kind aus mir gemacht? Was habe ich aus ihnen gemacht? Was habe ich aus Andreas gemacht, der jetzt vermutlich in einem fremden Zimmer auf dem Flugplatz Arlanda auf und ab ging und auf mich wartete?
Was hat Maria aus mir gemacht? Was hat sie aus Andreas gemacht? Sie, die stets dort zu sein pflegte, wo sie nicht sein sollte, aber nie dort, wo sie sein sollte! Und was habe ich aus ihr gemacht? Jedenfalls keine Gewohnheit. Diese Chance bekam