Der gefallene Engel. Theodor Kallifatides
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Читать онлайн книгу Der gefallene Engel - Theodor Kallifatides страница 6
Etwas später am selben Tag – Andreas hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen, gebeugt über einen leeren Notizblock, der leer blieb – machten Maria und ich einen Spaziergang an den Sandsteinhügeln entlang. Sie ging vor mir, sie trug ein schneeweißes Kleid mit einer großen roten Blume über dem Busen.
Ich ging hinter ihr, ich beobachtete ihren Körper Schritt für Schritt, das rhythmische Auf und Ab der Hüften unter dem weißen Leinen, ich paßte meinen Schritt dem ihren an, meine Atemzüge den ihren, und ich wußte nicht, ob sie ahnte, was hinter ihrem Rücken vor sich ging, aber ich feierte Orgien mit ihr, um so schwindelerregender, je unkörperlicher sie waren.
Aber sie mußte etwas geahnt haben, denn unvermittelt blieb sie stehen, der Weg war schmal, ich konnte nicht an ihr vorbei, ich blieb ebenfalls dicht hinter ihr stehen, heftig schnaufend, und ich umschloß mit meinen Händen ihre verborgene Mitte.
«Wenn du weitergehen willst, mußt du durch mich hindurch!» lachte sie, ohne sich umzusehen.
Durch ihr dunkles, wogendes Haar konnte ich weit, weit weg das Meer erkennen und zwischen dem Meer und mir befand sich ihr Körper, jung, unbefruchtet und kühl, gehüllt in ein schneeweißes Kleid; eine ausgezeichnete Luftspiegelung, eine Halluzination, die ich aber in meinen Armen halten konnte.
Aber meine Zeit war eine andere.
Ich war ein Ikarus ohne Schwingen aus Wachs, ich brauchte nicht zu fliegen, um in dieses glitzernde, flimmernde Meer zu stürzen; es genügte, Maria zu umarmen, deren Rücken sich leicht nach vorne beugte, wie eine Brücke halbwegs hin zur Unsterblichkeit, aber nur halbwegs. Ich glitt hinunter auf die heiße Kalkerde und küßte ihr feuchte Kniekehle, die nach Salz schmeckte. Maria legte ihre Hand auf meinen Kopf, immer noch ohne sich umzudrehen, so als segne sie meine Lippen, so als segne sie meine Lust und dieses glitzernde, flimmernde Meer.
«Wie lange sollen wir hier noch stehen?» hörte ich plötzlich in Westküstenschwedisch fragen. Ich wandte mich um und Riddarholmena tauchte aus dem ägäischen Wasser, in dem ich erst neulich in Erinnerung an Maria meine letzten Empfindungen an eine glückliche Zeit geopfert hatte.
Hunderte von Autos standen mit eingeschalteten Scheinwerfern, aber keine weiteren Menschen stiegen aus, sie blieben sitzen und warteten in der sicheren Gewißheit, in einen Stau geraten zu sein, ein Modell für Sicherheit in unserem heutigen Leben.
«Wahrscheinlich hat es dort vorne einen Unfall gegeben!» antwortete ich.
«Die Leute fahren ja wie die Irren!» seufzte treuherzig die Stimme aus Göteborg und kehrte in das italienische Auto zurück, das ungeduldig im Leerlauf lief.
Ich warf einen letzten Blick auf das dunkle Wasser um Riddarholmen und ging dann zurück zu meinem Citroën. Ich setzte mich hinein und pfiff diese sehr alte Weise, die Andreas einst für ein Schweizer Mädchen gesungen hatte.
Si tu m’aimes
comme je t’aime
tu m’aimerais beaucoup
Andreas wartete auf mich. Alles wartete auf mich. Und worauf wartete ich? Die Nacht fiel über die Essingebrücke, die einer auf Grund gelaufenen Fähre ähnelte.
«Geduld, Andreas! Geduld!» betete ich.
«Ich komme!»
4
Wie lange war Andreas schon auf dem Weg zu mir? Wie lange war es mir schon gelungen, ihn zu vergessen? Und Maria?
Ich hatte nicht vergessen. Ich hatte nur gelernt, so zu tun, als würde ich leben und habe mir in dieser Kunst eine solche Fertigkeit angeeignet, daß niemand den Unterschied bemerkt. Aber besteht überhaupt irgendein Unterschied zwischen leben und so tun, als würde man leben? Welcher von diesen zwei Träumen ist nun wahrer oder richtiger?
Ich kann es nicht sagen. Wer kann das schon?
Wenn die Ethik der Aufopferung stimmt, habe ich alles gewonnen, denn ich habe alles verloren. Zuerst verlor ich Maria, danach Andreas und endlich diese grausame Erfindung der grausamen Götter, mein Land, dieses Gebilde aus Berg und Meer, das meine Sinne erzogen hat.
Alles hatte ich verloren, aber hatte ich auch meine Seele gewonnen? Aber was ist meine Seele, wenn nicht Maria, Andreas und mein Land? Und dann diese Einsicht von der Unausweichlichkeit des Scheiterns, die sich vererbt hat vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter.
Diese Einsicht zwang mich, in der Zeit aufzugehen. Das hat Andreas nie gelernt, in seinen Genen hatte ein Sprung stattgefunden, er war für niemanden eine Fortsetzung, er wurde geboren, um von vorne anzufangen.
Er war in der Klasse zweifellos der intelligenteste von uns allen, aber er kam nie in die Nähe der richtig guten Zensuren. Ich hatte immer viel bessere Zensuren als er. Die Lehrer hatten Angst vor Andreas, jedesmal, wenn er die Hand hob, weil er etwas sagen wollte, wurde es ganz still in der Klasse und jedes zweite Mal taten die Lehrer so, als hätten sie seinen fordernden Zeigefinger nicht bemerkt.
Einmal protestierte Andreas und der Lehrer, dieser Hundsfott, der Mathematik unterrichtete, verteidigte sich lachend: «Du bist so klein, daß ich dich nicht gesehen habe!»
Andreas war leichenblaß geworden und ich sah, wie er mit einem Asthmaanfall kämpfte, er atmete pfeifend und hastig und wir andern, sogar ich, lachten und stellten uns auf die Seite des Mathematiklehrers. Andreas hatte mit wütenden Augen in meine Richtung geblickt, aber weder damals noch später etwas gesagt. Er war vermutlich daran gewöhnt. Er war daran gewöhnt, verraten zu werden, aber er lernte nie etwas daraus, er blieb unverändert lauter in seinem Wesen und unverändert unglücklich.
Andreas hatte oft homerische Auseinandersetzungen mit dem Religionslehrer, einem sehr ehrgeizigen Seelenjäger, der neben den üblichen Sünden mit großer Leidenschaft die für ihn schlimmste aller Sünden bekämpfte – das Widersprechen. Andreas brachte kaum seinen Mund auf, und der Lehrer unterbrach ihn und belegte ihn mit dem schrecklichsten Ausdruck, den er kannte, nämlich «Jesuit!».
Andreas, der es überhaupt nicht vertragen konnte, wenn man seine intellektuelle Redlichkeit in Frage stellte, wurde total wütend, erhob sich in seiner Bank und schrie, daß keiner ein Monopol auf Gott besitze.
«Doch, ich schon!» brüllte der Lehrer.
«Und warum?» erkundigte sich Andreas, jetzt in höflicherem Ton.
«Weil ich es sage!» tobte der Kreuzritter und ging dazu über, mit den Zähnen zu knirschen.
«Ich dachte, es sei Gott vorbehalten, das zu sagen!» reizte ihn Andreas aufs neue.
«Raus!» heulte der Lehrer. «Raus!» Und er hob die Hand wie Moses es an seiner Stelle getan hätte. Und Andreas verließ lachend das Klassenzimmer, aber nach zehn Minuten rief ihn der Lehrer wieder herein, weil die Stunde ohne Andreas so eintönig war.
Die große Streitfrage zwischen ihnen war nicht, wie man vielleicht meinen könnte, die Existenz Gottes. Dieses Problem hatte Andreas bereits abgeschlossen. Nicht er mußte Gottes Existenz beweisen, es war die Sache Gottes zu beweisen, daß er existierte. Ebensowenig quälte sich Andreas damit, einen Gegenbeweis zur Existenz Gottes zu führen, «weil es theoretisch unmöglich ist, etwas zu zeigen, was es nicht gibt. Das einzige, was man tun kann, ist der Nachweis, daß es etwas nicht hier und jetzt gibt, aber