Der gefallene Engel. Theodor Kallifatides

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Der gefallene Engel - Theodor Kallifatides

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daß es Gott gibt. Deshalb besitzen die Christen meine ganze Sympathie!» schloß er seine Überlegung. Die zentrale Streitfrage war: «Wie kann jemand glauben, ohne zu wissen oder schlimmer, ohne den Versuch gemacht zu haben, zu wissen!»

      «Ich kann das!» lachte der Lehrer triumphierend.

      «Das können Sie nicht!» lachte Andreas zurück.

      «Kann ich nicht?» höhnte der Lehrer. «Und wer, wenn ich fragen darf, sollte mich daran hindern?»

      «Die Logik!» antwortete Andreas pathetisch. «Die höchste Richterin!»

      «Was hat die Logik damit zu tun?»

      «Lassen Sie mich erklären!»

      «Dann aber schnell!»

      «Gut. Gesetzt der Fall, ich begegne Ihnen auf der Straße...»

      «Dann bewirfst du mich mit Tomaten, du Flegel!»

      «Ja, aber abgesehen davon... wenn ich Ihnen auf der Straße begegne und Sie frage: regnet es? Da antworten Sie, ja es regnet, wenn es regnet und nein, es regnet nicht, wenn es nicht regnet. Wenn ich aber frage: Glauben Sie, daß es heute vor zweitausend Jahren geregnet hat? Da können Sie antworten: Ich weiß es nicht, aber ich glaube es oder ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht. Mit andern Worten: glauben bedeutet, daß man zugleich bezweifelt, was man glaubt, was wiederum bedeutet, daß der Glaube manchmal stärker sein kann als der Zweifel und manchmal umgekehrt. Aber zu glauben, ohne gleichzeitig zu zweifeln, ist eine psychologische Möglichkeit für Fanatiker, aber eine logische Unmöglichkeit für vernünftige Leute!»

      «Dann gehöre ich also nicht zu den vernünftigen Leuten?»

      «Leider ist diese Folgerung...»

      «Raus!»

      Aber nach zehn Minuten hatte der Lehrer, der im Grunde ein gutmütiger Mensch war, ein neues Argument gefunden und er schickte einen von uns, um Andreas hereinzuholen. Diese Aufgabe oblag fast immer mir, denn zu der Zeit wußten alle, daß Andreas und ich dicke Freunde waren.

      Andreas war, sogar mit griechischem Maß gemessen, ziemlich klein und er litt sehr darunter, obwohl er nie darüber sprach. Aber er konnte ab und zu ohne sichtbaren Anlaß bleich werden, ein dunkler Schatten fuhr rasch über sein Gesicht, und das konnte jederzeit passieren, aber besonders oft passierte es in den Musikstunden.

      Der Musiklehrer war ein brutaler Riese, sehr begabt, aber sehr unglücklich über seine Größe und seine weißgefleckte Haut. Er war wie eine Pythonschlange, die ständig ihre Haut wechselte, und er hatte einen sehr verschrobenen Humor. Mich verabscheute er und nannte mich einen großen «Scheißhaufen», ich solle doch die Äcker düngen, dann würde der Klatschmohn «hoch wie Zypressen», und er verspottete mich auf jede Art, weil ich nicht singen konnte und auch die Noten nicht lernte.

      Andreas dagegen liebte er, Andreas war sein großer Stolz, dabei quälte er ihn noch mehr als uns andere. Andreas konnte nicht nur singen, er fing auch bald an, eigene Melodien zu komponieren, die er auf einer armseligen Gitarre des Lehrers spielte und man sah, wie der Lehrer vor Freude nasse Augen bekam, aber er konnte es nicht lassen, er mußte Andreas reizen und natürlich reizte er ihn an dem Punkt, der Andreas’ wundester war. Sobald Andreas der kleinste Fehler unterlief, forderte ihn der Lehrer auf, rauszugehen und «sich zu entspannen, denn wenn einer so klein ist, wirbelt er doch nur den Staub vom Boden auf», und da sah man jedesmal den dunklen Schatten über Andreas’ Augen.

      Ansonsten hatte Andreas einen schönen, kräftigen Oberkörper und sein stolzes Haupt, die feurigen schwarzen Augen, das kohlschwarze Haar und der blasse Teint verliehen ihm ein Aussehen wie die byzantinische Ikone eines christlichen Märtyrers. Ich liebte dieses Gesicht und als ich Maria getroffen hatte, wußte ich, daß auch sie dieses Gesicht lieben würde.

      Und doch, ich konnte es nicht lassen, die beiden zusammenzubringen. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß ich ihm ihre Bekanntschaft schuldig war und ihr seine Bekanntschaft, und ich akzeptierte es ohne nennenswerte Schwierigkeiten, daß sie im Grunde schon bei ihrem ersten Zusammentreffen ein Verhältnis anfingen. Was ich nicht einsehen konnte war, daß Maria mich auch liebte oder, was viel schwerer verständlich war, daß sie eigentlich nur mich liebte. Mir erschien so etwas naturwidrig, man konnte doch nicht das schlechtere Exemplar einer Rasse lieben, wenn man ein besseres kriegen konnte?

      Ich war noch zu jung, ich wußte nicht, daß es in der Liebe keine Normen gibt, jedenfalls nicht solche, die man bei Licht betrachten kann, ich begriff nicht, daß alles, was man über die Liebe gesagt hat und was man noch über die Liebe sagen wird, schmerzhafte Rationalisierungen sind oder pseudometaphysische Tiefsinnigkeiten; ich verstand nicht, daß Liebe ist wie das Schweigen: sie existiert in Abwesenheit von allem andern.

      Ich war immer noch von der völlig falschen Vorstellung besessen, daß einer der Liebe eines andern wert sein könne oder müsse. Ich war gründlich getäuscht worden von dem Ritter und seiner Dulcinea, ich betrachtete die Welt als große Arena und Dulcineas Liebe winkte dem Gewinner. Ich sehnte mich danach, alle anderen zu besiegen, damit meine Niederlage in der Liebe um so größer sein würde. Ich wollte Maria den Siegerkranz zu Füßen legen und ich kapierte nicht, daß Maria keinen Kranz, sondern nur mich haben wollte. Aber vielleicht war ich nicht bereit, diesen Preis zu bezahlen!

      Der Verkehr begann wieder zu fließen. Der luftgekühlte Motor hatte offenbar den langen Leerlauf nicht so gut vertragen, er spuckte und stotterte, aber als ich den dritten Gang eingelegt hatte, schnurrte er sanft wie ein verschmustes Kätzchen.

      Auf Essingeleden hatte es einen Unfall gegeben, als die Polizei uns vorbeidirigierte, sah ich zwei verbeulte Autos, einen Volvo und einen VW-Bus, und ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie das passiert sein sollte. Ich erblickte ein kleines blondes Mädchen, das in den Armen eines Polizisten weinte. Eine Frau um die Dreißig stand ein bißchen abseits und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ich dachte an ein anderes Kind, das Maria und ich eines Nachts vor langer Zeit überfahren hatten und ich dachte an das Kind, das ich beim Abendbrot verlassen hatte, das Kind, das meine Tochter ist. Sie waren wahrscheinlich inzwischen mit dem Essen fertig, die Frau, die meine Ehefrau ist, las sicher die Zeitung – sie schaffte es tatsächlich nie, die Zeitung morgens zu lesen –, und das Kind, das meine Tochter ist, saß sicher in der Badewanne und spielte mit einem kaputten Schiff, das für sie aus irgendeinem Grund das Schiff des Großvaters war.

      Sie hatte ihren Großvater nur ein einziges Mal getroffen und da war sie knapp drei Jahre alt. Sie hat nur eine schwache Erinnerung an ihn, aber sie erinnert sich, daß Großvater sehr alt war und sie machte sich Sorgen darüber, daß er jederzeit sterben könne. Sie redete ständig darüber und ich fragte sie einmal, ob sie Angst vor dem Tod habe.

      «Nein!» hatte sie mir versichert.

      «Wie sieht denn der Tod deiner Meinung nach aus?» bohrte ich weiter.

      «Ja... wie eine Treppe eben!»

      Und da merkte ich, daß sie zitterte, ihr kleiner, flaumiger Körper bebte und ich nahm sie in meine Arme, um sie und mich zu trösten und vermutlich tat ich dasselbe, was der Polizist mit dem blonden Mädchen versuchte.

      Ich stieg aufs Gaspedal, bei 4000 Umdrehungen schaltete ich in den Vierten, machte das Radio an und steckte mir eine neue Zigarette zwischen die Lippen. Die Nacht war noch tiefer geworden, der Verkehr hatte nachgelassen, und ich war auf dem Weg zu Andreas. Ich war für eine kurze Weile glücklich.

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