Franzosenzeit. Clara Viebig
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Deutlich sah der Sohn die Mutter jetzt vor sich — wie war sie gut, wie liebevoll, sie hatte ihn umsorgt wie kaum eine andre Mutter ihren Sohn! Als der Vater, der sparsame Vater, gestorben war, hatte sie weiter gespart: nur für ihn. Sie ließ ihn eine gute Schule besuchen; sie hätte ihn sogar Student werden lassen, wenn er das gewollt hätte, aber er hatte es vorgezogen, in eine Uhrenwerkstatt zu gehen. Das paßte ihm, mit spitzen Fingern feine Schrauben einzufügen, zierliche Rädchen in Bewegung zu setzen, mit geübtem Ohr hinzuhorchen auf die leiseste Unregelmäßigkeit der Pendelschwingung, einem Ding Leben zu verleihen, das ohne seine Kunst sonst stumm und tot wäre. Er war glücklich gewesen in seinem Beruf. Und die gute Mutter stand derweilen in ihrem kleinen Laden in der Grand’Rue von Valence, verkaufte seidenes Lyoner Band, die feinen Spitzen von Valenciennes und allerlei Weißzeug; sie war gegen jeden Kunden so zuvorkommend, als wäre er der Präsident der Republik selber. O, sie war eine scharmante Frau — eine Dame! Der Sohn fühlte eine große Achtung vor ihr und eine unbegrenzte zärtliche Liebe. In den vierundzwanzig Jahren seines Lebens hatte er noch nie für eine Frau das gleiche empfunden. Verlangend streckte er seine Hände in die Dunkelheit des Holzschuppenverschlages: „Mutter, Mutter!“
Der Wind des nächtlichen Berglands heulte seine Melodie, immer dieselbe Klage: „Verlassen, verlassen.“ Dieser Wind, der dem wirklichen Frühling vorausgeht, der alles aus dem Weg fegt, was auf Bergkuppen und in Kraterschlünden, auf höchstgelegenen Halden und in verborgenen Waldschluchten noch hemmend liegt, was das Wasser der Maare, der rätselvollen Kraterseen, so eisig macht, daß selbst heißer Sommer ihnen nichts von ihrer Kühle zu rauben vermag, flößte dem Fremdling Grauen ein. Wie das pfiff, wie das heulte, an seiner Bretterwand rüttelte! Und doch lag man hier noch im Schutz der hohen Erdwälle. Wie mochte es erst auf freier Höhe sein? Schaudernd kniff er die Augen zu und preßte die Hände gegen die Ohren. Aber er hörte doch alles; er hörte noch mehr. Ein schriller Pfiff tönte plötzlich — war das ein Signal? — und dann begann ein jammerndes Weinen, ein Klagen wie von Kindern, die man verlassen hat. Immer wieder so, immer wieder. Er ließ die Hände von den Ohren, er setzte sich aufrecht und lauschte; er mußte lauschen, obgleich er lieber nichts hören wollte. Jammerten Menschen so oder Tiere? Und dann begann eine Eule: „Hui — huuu —!“ Es klang schauerlich. Und das ging immer weiter so. In die Nacht kam noch keine Ruhe; sie wanderte auf schlurfenden Sohlen um den Holzstall, sie tastete an den Wänden hinauf und hinab, sie langte durch die Spalten der Bretter und pustete ihren Atem durch jedes Astloch. Es knisterte, es knackte, es pfiff, es posaunte, es raschelte und rieselte, es klopfte und krachte, es tastete und tappte — o weh, die grausame Nacht war hereingekommen, Nacht und Einsamkeit! Sie legten sich dem Gefangenen auf die Brust, sie schlangen ihre Arme um seinen Hals, sie wollten ihn erwürgen. Mit einem heiseren Schrei fuhr er empor, gewaltsam riß er sich los, rannte im Verschlag auf und ab, immer hin und her mit schaukelndem Gang, rastlos wie ein gefangener Tiger im Käfig. Er heulte laut auf und zitterte dann über die eigene Stimme: wenn ihn jemand so hören würde! Aber es hörte ihn niemand.
Was ist das für ein Spektakel diese Nacht, dachte der Bauer. Nun ja, es war Walpurgis, da war etwas los in den Lüften. Die Frau, aufgeweckt durch fallende Schiefer, die der Wind unter Heulen vom Dach herunterriß, und die auf dem schmalen gepflasterten Gang längs der Vorderwand prasselnd zerschellten, bekreuzte sich. Und dann beklagte sie sich: da hatte sie sich doch etwas andres erwartet an Hilfe. Der Franzos war ja gar keine. Was hatte der wohl in seinem Leben getan? Nichts; er konnte ja gar nichts. Nicht einmal melken konnte er. Und als er ihr Häcksel schneiden sollte fürs Futter, wäre er mit der Hand fast in die Maschine gekommen. Ein Mensch, zu nichts zu gebrauchen. Freilich, bösartig schien er nicht.
Was hat er für traurige Augen, dachte die Tochter. Sie war noch in ihrer Kammer im Giebel auf, stand vor der Kommode und kramte in einem Schub. Sie hatte an ihrer Bluse für Sonntag genäht, nun legte sie die fort; ungesucht kam ihr dabei allerlei in die Hände. Briefe aus dem Feld, von ihrem Bruder, dem Mathes; der war der schönste Unteroffizier, den man sich denken konnte. Sie war sehr stolz auf ihn. Und da waren zwei Briefe von Jakob Treiß, die einzigen, die er ihr hatte schreiben können. „Eine Kugel kam geflogen, gilt sie mir oder gilt sie dir“ — das Lied vom guten Kameraden kam ihr auf die Lippen, sie hatte es oft singen gehört und oftmals mitgesungen, jetzt summte sie leise die Melodie. Daß der so bald hatte dran glauben müssen!
Draußen jammerte etwas, es klang wie klägliches Weinen. Taten das Katzen? Nein, es waren die Marder, die paarten sich im Gestein hinterm Haus. Wenn sie auf Raub ausgingen, sich hier nach dem Hühnerstall schlichen, dann waren sie nicht so laut. Mußten die hitzig sein, jetzt bissen sie sich wohl gar! Sie lachte in sich hinein. Wenn einer das hörte, der nicht wußte, was das war, so konnte er sich erschrecken. Der Franzose lag wahrlich nicht zum besten im Holzstall, man hätte ihm das Bett da nicht hintun sollen. Aber die Mutter hatte ja ihren eigenen Kopf, die ließ sich nicht dreinreden. Als ob sie, die Tochter, nicht auch ihren Kopf hätte! Ei freilich, den hatte sie. Christina nickte, sich selber bestärkend, und stieß dann mit Kraft die weit herausgezogene Schublade in ihr Gefach zurück. Der arme Mensch, ob es ihn wohl grauste? Sicher. Nein, doch nicht, er kam ja aus dem Krieg. Im Krieg ist man Schlimmeres gewöhnt; der fürchtete sich vor so etwas nicht. Aber doch eine böse Nacht! Sie trat zum Fenster und lauschte. Wie das stürmte! Was sie vom Himmel sehen konnte, sah gefährlich aus. Zerfetzte Wolken hingen herunter bis in den Hof. Nun gab’s ein Hui, einen fauchenden Windstoß; eine Wolke, schwarz wie eine Wildsau, jagte vorüber. Dann huschte ein wenig Mondlicht.
Christina trat vom Fenster zurück, es wehte sie kalt an durchs Glas. Sie zog die Stirn in Falten: nein, es war nicht recht von der Mutter, daß sie den armen Menschen in den kalten Holzstall gelegt hatte. Morgen würde sie das der Mutter sagen, wenn der Fremde sie auch gar nichts anging. Aber ihrer Rechtlichkeit war so etwas zuwider; man behandelt keinen Menschen, und sei er auch ein Gefangener und ein Franzos, wie einen zugelaufenen Hund. Und der hier hatte zudem so ein gutmütiges Gesicht, hatte schier etwas Sanftes; sie hatte sich einen Franzosen ganz anders vorgestellt. Man könnte nicht wissen, ob der einem nichts antäte, wenn man ihn zur Nacht ins Haus nähme, sagten sie. Der Stiefvater hatte heute die Haustür fest zugeschlossen und dazu noch den Riegel vorgelegt, sonst tat er das niemals. Wie konnte man vor so einem nur Angst haben! Sie warf spöttisch den Mund auf. Und dann fiel ihr plötzlich ein: wenn nun der Mathes gefangen würde in Frankreich? Es könnte doch auch sein. Und wenn es dem dann so ginge, wenn der so liegen müßte im elenden Winkel! Ihr Herz schlug rascher, eine plötzliche Angst um ihren Bruder kam sie an und trieb ihr das Blut zu Kopf. Sie wurde heiß und unruhig: alles, was sie hier an dem Franzosen taten — Gutes und Böses — es wurde auch an dem Bruder in Frankreich getan. Das war gewiß. Es war ihr so gewiß, wie die Strafe oder die Belohnung, denen ein jeder entgegenging nach dem Tode.
Ihre Hände falteten sich, ihr Gesicht wurde ganz ernst und nachdenklich: ja, man mußte gut zu dem Gefangenen sein.
2
Die ersten Tage waren die schwersten, sie waren oft so schwer, daß es den Gefangenen anwandelte wie Verzweiflung. Nächte, in denen er nicht schlafen konnte, konnten ihm auch keinen Mut bringen — wie sollte er so einen Tag anfangen, an dem ungewohnte Arbeit ihm fast die Knochen zerbrach? Wie arbeiten mit einem Rücken, der statt der Wirbel eine Eisenstange hatte — er konnte sich nicht mehr bücken — mit Füßen, deren Sohlen wundgelaufen waren, mit Händen, die aufgeschwollen waren vom schweren Schleppen. So elend, wie er sich am Abend niedergelegt hatte, so elend stand er am Morgen auch wieder auf. Er sagte sich: ich habe Fieber. In seinem Kopf drehte sich, wie das Rädchen in einer Uhr, einzig der Gedanke: sterben, sterben. Er aß nichts und sprach kein Wort. Aber jede Stunde lief er zum Brunnen und hielt den Mund unter das Pumpenrohr, ihn verzehrte ein brennender Durst, der Fieberdurst der Sehnsucht: nach Hause, nach Hause!
Aber als die Tochter es durchgesetzt hatte, daß der Franzose in die Knechtekammer beim warmen Kuhstall kam, wurde es besser. Sie hatte den Stiefvater und die Mutter überredet; die mußten es nun doch wohl einsehen, daß von dem Menschen nichts zu fürchten war. Das war ja so ein Stiller, der froh war, daß man ihm nichts tat.