Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner
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Endes Texte tendieren […] zur Stabilisation der Krisenlage, weil sie Kompensationsangebote machen. Seine Ideen sind nicht etwa Komplement der schlechten Wirklichkeit, sondern deren phantastische Fortsetzung.101
Vier Jahre später veröffentlicht Heidi Aschenberg im Rahmen einer Untersuchung von »Eigennamen im Kinderbuch« ihre persönliche Abrechnung mit der Unendlichen Geschichte. Abgesehen davon, daß sie hierbei nicht zwischen dem Roman selbst und der ihn grob verzerrenden filmischen Adaption unterscheidet, was ihrer Kritik polemische Züge verleiht,102 schlägt Aschenberg in eine ganz ähnliche Kerbe wie Kaminski: Endes Werk fördere ein »unbedingtes Akzeptieren des Status quo in der ›Versöhnung‹ von phantastischer und wirklicher Welt«,103 anstatt doch den Leser zur »Überwindung der Unzulänglichkeiten der letzteren durch bewußtes und selbstbewußtes Handeln«104 anzuhalten.
Diese und vergleichbare Kritiken sind insofern bemerkenswert, als sie einen prägnanten Beweis für die Macht des Vorurteils über das menschliche Denken erbringen. Verleitet vermutlich durch die Assoziationskette Tolkien – Fantasy – Eskapismus (sowie die Erinnerung daran, daß bereits Endes Erstlingswerk Jim Knopf ins Visier »realistischer« Kritiker geriet105), übersehen Kaminski und Aschenberg völlig, daß die Gefahren jenes »Auswegs in eine andere Wirklichkeit« ein zentrales Motiv des von ihnen gegeißelten Werkes darstellen: Thematisiert nicht Ende ganze vierzehn Kapitel lang (mehr als die Hälfte des Romans!) die trughafte Verlockung, sich in Phantásien zu verlieren, bis schließlich der Rückweg in die »Menschenwelt« für immer versperrt ist? Stellt nicht die Schilderung jener Geisteskranken in der »Alten Kaiser Stadt«, denen ebendies widerfahren ist, die mit Abstand bedrückendste, ja schaurigste Szene des gesamten Buches dar? Und »versöhnt« sich nicht der diesem Schicksal um Haaresbreite entkommene Bastian, ganz als habe er Aschenbergs Kritik bereits im vorhinein gelesen, mit seiner »wirklichen Welt« schließlich durch »bewußtes und selbstbewußtes Handeln«, das ihre »Unzulänglichkeiten überwindet«? Wer solcherart den reflexiven Charakter von Endes fantastischer Erzählung außer acht läßt, die ebenso nach den Gefahren jener »Flucht ins Fantastische« wie den Möglichkeiten der Befruchtung des »Realen« durch das Imaginäre, kurzum: nach der Stellung von »Phantasie« zu »Wirklichkeit« schlechthin fragt, dem entgeht der wesentliche Teil des Romans. So aber geraten nicht nur abwertende, sondern auch positive Rezensionen wie jene Lodemanns unweigerlich auf eine schiefe Ebene: Als bloßer Fantasyroman betrachtet, reichte Die unendliche Geschichte in Wahrheit ebensowenig an The Lord of the Rings heran, wie ein noch so liebevoll gezeichnetes Phantásien neben den elaborierten Feinstrukturen Mittelerdes bestehen könnte. Indes ist Endes Werk viel mehr als das, oder genauer gesagt: Es ist etwas völlig anderes.
Betrachten wir die reflexiven Züge des Romans genauer, so wird der Unterschied zu Tolkien noch deutlicher. Ein Frodo Beutlin (die Hauptfigur des Herrn der Ringe), der auf seinem Weg nach Mordor plötzlich innehielte, um sich in gesetzten Worten an den Leser zu wenden, wäre eine Absurdität, die den Rahmen des Buches sprengen würde. Genau diese Art reflexiver Bewegung begegnet uns hingegen mehrfach und nachdrücklich in der Unendlichen Geschichte, etwa wenn das phantásische Wesen Uyulála klagt:
»[…] Wir sind nur Figuren in einem Buch,
und vollziehen, wozu wir erfunden.
Nur Träume und Bilder in einer Geschicht’,
so müssen wir sein, wie wir sind,
und Neues erschaffen – wir können es nicht […].« (UG 109)
An wen aber richten sich die Worte der Uyulála? An den Phantásier Atréju, der nach vielen Abenteuern in ihren Tempel vorgedrungen ist? An das »Menschenkind« Bastian, das dies alles gebannt auf seinem Matratzenlager verfolgt? Oder doch eher an den Leser von Endes Roman, der damit aufgefordert wird, zwischen innerer und äußerer Handlung, zwischen Atréjus Phantásien und Bastians »Menschenwelt« zu unterscheiden? Aber wie »realistisch« ist diese eigentlich? Nehmen wir das zentrale Kapitel der Unendlichen Geschichte, »Der Alte vom wandernden Berge« (UG 177–190), genauer in den Blick, so wird klar, daß die vermeintliche »Rahmenhandlung« um den Jungen auf dem Speicher tasächlich in höchstem Maße fiktiv ist, steht sie doch in einem Buch (die Unendliche Geschichte des Alten) in einem Buch (die Unendliche Geschichte aus dem Antiquariat Koreander) in einem Buch (Endes Roman) aufgezeichnet. Mehr noch: Augenzwinkernd geben auch die handelnden Personen dieser Ebene dem Leser zu verstehen, daß sie sich, ebenso wie die Uyulála, ihrer Rolle als »Figuren in einem Buch« durchaus bewußt sind, etwa wenn vom »erfahrenen Phantásienreisenden« (UG 427) Koreander gesagt wird: »Vielleicht hat [Die unendliche Geschichte] in genau diesem Augenblick gerade jemand anders in der Hand und liest darin« (UG 426) – womit er offenkundig auf den Leser von Endes Roman anspielt. Auf der Suche nach der »eigentlichen« Rahmenhandlung rutscht so der Leser gleichsam immer wieder ein Stockwerk tiefer, bis er schließlich bei sich selbst, bei seiner eigenen Existenz anlangt. Dadurch aber hat die reflexive Bewegung in der Unendlichen Geschichte ihren äußersten Kreis geschlagen, hat nicht nur die Figuren im Buch, nicht nur dessen fiktiven Leser Bastian,106 sondern auch den realen Leser von Endes Roman in ihren Bann gezogen – und der Autor sein erklärtes Ziel erreicht: »Geschichten zu schreiben, die [den Leser] auf sich selbst zurückverweisen.«107
In jener Reflexivität, die wir im vorigen Abschnitt als wesentlichen Zug der Unendlichen Geschichte erkannt haben, zeigt sich das Endesche Werk dem philosophischen Denken zweifellos verwandt – was sie zu einem wichtigen Ausgangspunkt für die philosophische Interpretation macht. Dies klärt allerdings noch nicht die Frage, ob wir tatsächlich von einem eigenen philosophischen Denken Endes auszugehen haben, das sich in seinen Werken spiegelt. Bis hierher nämlich könnte man jene Reflexivität, wenn man wollte, noch als ein zwar tiefsinniges, aber letztlich bedeutungsloses künstlerisches Spiel abtun, wie wir es etwa schon bei Cervantes finden.108 Indes verfolgt die reflexive Bewegung innerhalb der Unendlichen Geschichte, anders als im Don Quijote, ein ganz bestimmtes Ziel. Je mehr der Leser sich selbst und seine Welt in den Roman einbezogen findet, desto mehr ist er geneigt, die darin aufgezeigten Problemstellungen als »wirklich« zu akzeptieren. Der drohende Untergang des Reiches menschlicher Phantasie und Kreativität wird ihm so zu dem, was er offenbar auch für Ende selbst war: zu einer realen, existentiellen Gefahr, der es zu begegnen gilt. Dies ist zweifellos vom Autor beabsichtigt. Im bereits erwähnten Gespräch mit Joseph Beuys vertritt Ende mit Nachdruck die Meinung, es sei
gerade die Aufgabe des Schriftstellers, des Malers, des Bildhauers, daß er Vorstellungen entwirft,