Michael Endes Philosophie. Alexander Oberleitner

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Michael Endes Philosophie - Alexander Oberleitner Blaue Reihe

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der Leser mühelos feststellen wird, handelt es sich bei Der Niemandsgarten um eine Vorstufe zu Die unendliche Geschichte. Wir erkennen darin eine beeindruckende Verbindung zwischen der Welt Momos und der phantastischen Reise von Bastian Balthasar Bux. Während der Anfang von Der Niemandsgarten noch an die Welt der Momo erinnert – Norm heißt hier die Stadt, die von den Grauen Herren zu einem Muster an Effizienz umgestaltet wurde –, beginnt mit dem Eintritt in das »Niemandsland«, das niemand [sic] oder eben allen gehört, die Schilderung einer Phantasiewelt, in der der Leser rasch die wesentlichen Konturen des Phantásien aus der Unendlichen Geschichte erkennt. (NG 321)

      Tatsächlich vollzieht sich der Übergang zwischen Momos und Bastians Welt nicht bloß durch jenen Eintritt des Mädchens Sophie ins »Niemandsland«, sondern läßt sich das ganze Romanfragment hindurch verfolgen – nicht zuletzt deshalb, weil Sophie selbst eine Art »Übergangsfigur« zwischen Momo und Bastian darstellt. Als unschuldiges Kind in einer zutiefst feindlichen Welt gleicht sie Momo, deren mystische Aura ihr allerdings fehlt. Dies wiederum läßt sie plastischer, »menschlicher« wirken als jene, weniger plastisch freilich als Bastian, dessen negative Charaktereigenschaften sie nicht teilt. In einem jedoch gleicht sie Bastian völlig: Sie ist hochbegabt mit jener Fähigkeit des Träumens und Geschichtenerfindens, die Momo, wie ausdrücklich festgehalten wird (MO 25), keineswegs in besonderem Maße besitzt.

      Außer Zweifel steht, daß es sich bei Sophies Heimatstadt Norm um den vollkommen trostlosen Endzustand jener namenlosen Großstadt handelt, an deren Rand das Amphitheater Momos lag; ebenso, daß die Unterschiede zwischen Niemandsland und Phantásien marginal und weitgehend bedeutungslos sind. Da die Hauptfigur des Romanfragments weiblich ist, finden wir anstelle der Kindlichen Kaiserin einen »kleinen Zaren«, in den sich Sophie ebenso auf kindliche Weise verliebt wie Bastian in Mondenkind; der Elfenbeinturm ist hier noch ein »Schloß aus buntem Glas« (NG 215); und dergleichen mehr. Im Wesentlichen aber betritt Bastian Balthasar Bux mit Phantásien eine bereits fertige Welt, die von Ende in bewußtem Gegensatz zur von den Grauen Herren verwüsteten »Menschenwelt« gestaltet wurde. Selbst die fragile und komplexe Wechselwirkung der beiden Welten, die für die Unendliche Geschichte so bedeutsam sein wird, ist hier schon angedeutet: Die von den Grauen Herren mit der Krankheit der »tödliche[n] Langeweile« (MO 244) infizierten Menschen wissen nichts mehr vom Niemandsland; dessen kleiner Zar aber, auf sie angewiesen wie die Kindliche Kaiserin in ihrer Krankheit, schläft und kann nicht mehr erwachen.

      Der Niemandsgarten lehrt uns also, daß Momo und Die unendliche Geschichte in Endes Schaffensprozess ursprünglich eine thematische Einheit bildeten. Dennoch fällt auf, daß die beiden Romane einander durchaus unähnlich sind. Worin ist diese Verschiedenheit begründet? Hocke/Neumahr118 nennen Momo ein sozialkritisch-utopisches, Die unendliche Geschichte hingegen ein psychologisches Buch. Dies könnte man so verstehen, daß Die unendliche Geschichte zu zeigen versucht, wie jene gesellschaftliche Problematik, welche in Momo das Individuum bedrängt und bedroht, im Individuum zu bewältigen ist. Es wäre – so dies zutrifft – kein Zufall, daß Ende im Verbindungsstück Der Niemandsgarten den märchenhaft-naiven Schluß von Momo revidiert. Anders als Momo hat das Mädchen Sophie nicht mehr die Möglichkeit, durch simple Kunstgriffe wie das Schließen und Öffnen einer Tresortür die Welt vor den Grauen Herren zu retten; wie Bastian muß sie den Weg durch ihr ganz persönliches Niemandsland gehen – ihre »Innenwelt«119, das Reich ihrer Phantasie.

      Es wurde oben die These geäußert, die Grundfrage Endes sei jene nach den Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Kunst – und zwar im weitesten Sinne des Wortes. Betrachten wir Momo und Die unendliche Geschichte unter diesem Aspekt, so zeigt sich uns eine deutliche thematische Zweiteilung. Momo ist insofern sozialkritisch zu nennen, als es jene Strukturen und Mechanismen zum Thema hat, welche die menschliche Kreativität behindern, ja erstikken – und damit, wenn wir Ende folgen, das Menschsein selbst. Für ihn nämlich war, wie sich in seinem ganzen Werk zeigt,

      das Schöpferische einfach schlechthin das Menschliche. Es ist das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, nämlich daß er schöpferisch sein kann.120

      Genau dieses »Schöpferische« aber, das in Momo eigentlich nur gestreift wird,121 wird in der Unendlichen Geschichte zum offenbar beherrschenden Thema. Es ist nichts anderes als seine eigene, im wahrsten Sinne des Wortes sinnstiftende Kreativität, die es dem orientierungslosen Außenseiter Bastian ermöglicht, sich selbst und damit letztlich auch seine Lebenswelt zum Positiven zu verändern. Warum dies in seinem Falle, im Gegensatz zu jenen kläglich Gescheiterten in der Alten Kaiser Stadt, deren Schaffenskraft sinnlos vergeudet wurde, auch tatsächlich gelingt, ist wohl die zentrale Frage, welche die vorliegende Arbeit an Die unendliche Geschichte zu stellen haben wird.

      Wir sehen, daß Die unendliche Geschichte insofern als thematisches Gegenstück zu Momo gelten kann, als sie die Bedingungen der Möglichkeit eines kreativen, sinnerfüllten Menschseins auslotet, während der Märchenroman in erster Linie jene Strukturen zum Thema hat, die ein solches verhindern. Damit hätten wir, wenn die oben geäußerte These zutrifft, beide Seiten von Endes Grundthematik vor uns – und zwar in exemplarischer Weise. Eine philosophische Betrachtung anderer Werke Endes muß deshalb natürlich nicht etwa fruchtlos verlaufen; die Konzentration der vorliegenden Untersuchung auf seine beiden zentralen Romane scheint aber in jedem Falle geboten. Ich möchte hierbei die beiden nächsten (und zentralen) Teile dieser Arbeit primär der Darstellung des Endeschen Denkens im Spiegel von Momo und Die unendliche Geschichte widmen, bevor der vierte Teil die Untersuchung mit einer »kritischen« Rückschau abschließt.

       5.Ergebnisse

      Eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieses Kapitels (C) soll dieses abschließen. Es sind dies gleichzeitig Arbeitshypothesen für den weiteren Fortgang der Untersuchung.

      imageEine philosophische Interpretation poetischer Texte ist möglich, vorausgesetzt, daß die prinzipielle Andersartigkeit poetischer gegenüber logisch-begrifflicher Sprache respektiert wird.

      imageDa jene These, die Endes künstlerisches Schaffen als einen Versuch zur »Überwindung des abstrakt-begrifflichen Denkens« deutet (Kowatsch122), nicht zu halten ist, gibt es keinen Grund, sein Werk von dieser Möglichkeit auszunehmen.

      imageEndes Werk weist in erster Linie durch seinen reflexiven Charakter (der es etwa von den Werken Tolkiens unterscheidet) auf das eigene philosophische Denken des Autors hin. Diese Reflexivität fordert nicht zuletzt auch den Leser zu weiterführender Reflexion heraus.

      imageDas Grundthema von Endes Kunst dürften die Bedingungen der (Un-)Möglichkeit von Kunst überhaupt sein. Sein philosophisches Denken ist also, wenn dies zutrifft, seinem Wesen nach Kunsttheorie – freilich im weiteren Sinne. Da nämlich für Ende das Künstlerische (Schöpferische) im Menschen dessen ureigenes Wesen ausmacht, hätten wir es mit einer Reflexion über das Menschsein überhaupt zu tun.

      imageEndes philosophisches Denken schließt, soweit wir bis jetzt sehen können, eine starke ethische Komponente mit ein, insofern nämlich, als die Frage nach den gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen, welche schöpferisches

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