Ausgewählte Erzählungen. Oscar Wilde

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Ausgewählte Erzählungen - Oscar Wilde

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wie ein Chiromant aus – das heißt, er sieht weder mystisch noch esoterisch, noch romantisch aus. Er ist ein kleiner, untersetzter Mann mit einem komischen, kahlen Kopf und einer großen goldenen Brille. So ein Mittelding zwischen einem Hausarzt und einem Provinzadvokaten. Es tut mir sehr leid, Sie zu enttäuschen, aber es ist nicht meine Schuld. Die Leute sind immer so langweilig. Alle meine Pianisten sehen genau wie Dichter aus, und alle meine Dichter wie Pianisten. Ich erinnere mich, daß ich in der vorigen Saison einmal einen schrecklichen Verschwörer zu Tisch eingeladen habe, der schon eine ganze Menge Menschen in die Luft gesprengt hatte und immer ein Panzerhemd trug und einen Dolch in seinem Rockärmel verbarg. Und denken Sie sich, als er ankam, sah er just aus wie ein netter, alter Pastor und riß den ganzen Abend Witze. Natürlich – er war sehr unterhaltend, aber ich war schrecklich enttäuscht. Und als ich ihn wegen des Panzerhemdes befragte, lachte er bloß und sagte, dafür sei es zu kalt in England. Ach – da ist ja Mr. Podgers. Mr. Podgers, Sie müssen der Herzogin von Paisley die Hand lesen. Herzogin, ziehen Sie den Handschuh aus. Nicht den linken, den anderen!«

      »Liebe Gladys, ich weiß wirklich nicht, ob das ganz recht ist«, sagte die Herzogin und knöpfte zögernd einen ziemlich schmutzigen Glacehandschuh auf.

      »Das sind alle interessanten Dinge, nicht?« sagte Lady Windermere. » On a fait le monde ainsi. Aber ich muß Sie vorstellen. Herzogin, das ist Mr. Podgers, mein Lieblingschiromant. Mr. Podgers, das ist die Herzogin von Paisley, und wenn Sie sagen, daß ihr Mondberg größer ist als der meine, dann glaube ich Ihnen nie wieder.«

      »Ich bin sicher, Gladys, daß in meiner Hand nichts Derartiges ist«, sagte die Herzogin ernsthaft.

      »Euer Gnaden haben ganz recht«, sagte Mr. Podgers und blickte auf die kleine, fette Hand mit den kurzen, dicken Fingern. »Der Mondberg ist nicht entwickelt. Aber die Lebenslinie ist jedenfalls ausgezeichnet. Bitte, beugen Sie ein wenig das Gelenk. Danke. Drei deutliche Linien auf der Rascette. Sie werden ein hohes Alter erreichen, Herzogin, und werden außerordentlich glücklich sein. Ehrgeiz – sehr mäßig, Intelligenzlinie nicht übertrieben. Herzlinie –«

      »Jetzt seien Sie einmal indiskret, Mr. Podgers!« rief Lady Windermere.

      »Nichts wäre mir erwünschter«, sagte Mr. Podgers und verbeugte sich. »Wenn die Herzogin jemals dazu Anlaß gegeben hätte. Aber ich muß leider sagen, daß ich nichts anderes sehe als eine große Beständigkeit der Neigung, verbunden mit einem strengen Pflichtgefühl.«

      »Bitte, fahren Sie nur fort, Mr. Podgers«, sagte die Herzogin und sah sehr vergnügt drein.

      »Sparsamkeit ist nicht die letzte von Euer Gnaden Tugenden«, fuhr Mr. Podgers fort, und Lady Windermere brach in lautes Lachen aus.

      »Sparsamkeit hat ihr Gutes«, bemerkte die Herzogin gnädig. »Als ich Paisley heiratete, hatte er elf Schlösser und nicht ein einziges Haus, in dem man wohnen konnte.«

      »Und jetzt hat er zwölf Häuser und nicht ein einziges Schloß!« rief Lady Windermere.

      »Ja, meine Teure«, sagte die Herzogin. »Ich liebe ...«

      »Den Komfort«, sagte Mr. Podgers. »Und die Errungenschaften der Neuzeit, wie Heizung in jedem Schlafzimmer. Euer Gnaden haben ganz recht. Komfort ist das einzige, was unsere Kultur uns zu geben vermag.«

      »Sie haben den Charakter der Herzogin bewundernswürdig getroffen, Mr. Podgers – jetzt müssen Sie uns aber auch den Charakter Lady Floras enthüllen.«

      Und auf ein Kopfnicken der lächelnden Hausfrau erhob sich ein hochgewachsenes Mädchen mit rötlichem Haar und hohen Schultern verlegen vom Sofa und streckte ihm eine lange knochige Hand mit spateiförmigen Fingern entgegen.

      »Ah, eine Klavierspielerin, wie ich sehe«, sagte Mr. Podgers. »Eine ausgezeichnete Pianistin, aber vielleicht nicht sehr musikalisch. Sehr zurückhaltend, sehr ehrlich. Sie lieben Tiere sehr.«

      »Sehr wahr!« rief die Herzogin und wandte sich Lady Windermere zu. »Das ist vollkommen wahr. Flora hält in Macloskie zwei Dutzend Collies und würde auch unser Stadthaus in eine Menagerie verwandeln, wenn der Vater es erlaubte.«

      »Wie ich es mit meinem Haus jeden Donnerstagabend tue«, rief Lady Windermere lachend. »Nur habe ich Salonlöwen lieber als Collies.«

      »Das ist Ihr einziger Fehler, Lady Windermere«, sagte Mr. Podgers mit einer pompösen Verbeugung.

      »Wenn eine Frau ihre Fehler nicht mit Reiz umkleiden kann, ist sie bloß ein Weibchen«, war die Antwort. »Aber Sie müssen uns noch einige Hände lesen. Bitte, Sir Thomas, zeigen Sie doch Mr. Podgers die Ihre!« Und ein lustig dreinschauender alter Herr mit einer weißen Weste kam heran und hielt eine dicke, rauhe Hand hin, deren Mittelfinger sehr lang war.

      »Eine Abenteurernatur. Sie haben vier lange Reisen hinter sich und eine vor sich. Sie haben dreimal Schiffbruch erlitten. Nein, nur zweimal – aber die Gefahr eines Schiffbruchs droht Ihnen auf der nächsten Reise. Streng konservativ, sehr pünktlich. Sie sammeln mit Leidenschaft Kuriositäten. Eine schwere Krankheit zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Jahr. Große Erbschaft nach dem dreißigsten Jahr. Große Abneigung gegen Katzen und Radikale.«

      »Außerordentlich!« rief Sir Thomas aus. »Sie müssen unbedingt auch die Hand meiner Frau lesen.«

      »Ihrer zweiten Frau«, sagte Mr. Podgers ruhig und hielt Sir Thomas' Hand noch in der seinen fest. »Ihrer zweiten Frau. Es wird mir ein Vergnügen sein.« Aber Lady Marvel, eine melancholisch aussehende Dame mit braunem Haar und sentimentalen Wimpern, lehnte entschieden ab, sich ihre Vergangenheit oder Zukunft enthüllen zu lassen. Und was Lady Windermere auch versuchte, nichts konnte Monsieur de Koloff, den russischen Botschafter, dazu bewegen, auch nur seine Handschuhe auszuziehen. Ja, viele schienen sich zu fürchten, dem seltsamen kleinen Mann mit dem stereotypen Lächeln, der goldenen Brille und den glänzenden Kugelaugen gegenüberzutreten; und als er der armen Lady Fermor klipp und klar vor allen Leuten erklärte, daß sie gar keinen Sinn für Musik habe, aber in Musiker vernarrt sei, fühlte man allgemein, daß Chiromantie eine sehr gefährliche Wissenschaft sei und daß man sie nur unter vier Augen betreiben dürfe.

      Lord Arthur Savile aber, der von Lady Fermors unglückseliger Geschichte nichts wußte und Mr. Podgers mit großem Interesse beobachtet hatte, war furchtbar neugierig, sich aus der Hand lesen zu lassen, und da er sich etwas scheute, sich in den Vordergrund zu drängen, ging er durch das Zimmer hinüber zu Lady Windermeres Platz und fragte sie mit reizendem Erröten, ob sie wohl glaube, daß Mr. Podgers ihm den Gefallen tun würde.

      »Gewiß, gewiß«, sagte Lady Windermere. »Dazu ist er ja hier. Alle meine Löwen, lieber Lord Arthur, sind dressierte Löwen, die durch den Reifen springen, wenn ich es ihnen befehle. Aber ich sage Ihnen im voraus, daß ich Sybil alles wiedererzählen werde. Sie kommt morgen zum Lunch zu mir – wir haben über Hüte zu reden –, und wenn Mr. Podgers herausfinden sollte, daß Sie einen schlechten Charakter oder Anlage zur Gicht haben oder daß Sie bereits eine Frau besitzen, die irgendwo in Bayswater lebt, so werde ich sie das alles bestimmt wissen lassen!«

      Lord Arthur lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte mich nicht«, sagte er, »Sybil kennt mich so gut, wie ich sie kenne.«

      »Ach, das tut mir eigentlich leid. Die passende Grundlage für eine Ehe ist gegenseitiges Mißverstehen. Nein, ich bin durchaus nicht zynisch. Ich habe bloß Erfahrung gesammelt, was übrigens fast auf dasselbe hinauskommt ... Mr. Podgers, Lord Arthur Savile ist furchtbar neugierig, was in seiner Hand steht. Aber erzählen Sie ihm nicht, daß er mit einem der schönsten Mädchen Londons verlobt ist, denn das hat bereits vor einem Monat in der Morning

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