Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
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20.Pressing und Ballbesitz Von Vic Buckingham bis Pep Guardiola: Kurzpassspiel beim FC Barcelona
Felix qui potuit rerum cognoscere causas.*
Vergil, Georgica II, 490
(*Glücklich, wem es gelang, den Grund der Dinge zu erkennen.)
Vorwort zur Neuauflage
Als ich 2005 für FourFourTwo den Artikel schrieb, der mich erst auf die Gedanken zu Revolutionen auf dem Rasen brachte, war Taktik nicht mehr als ein Randthema in der britischen Fußballberichterstattung. Mittlerweile, da ich 13 Jahre später diese Zeilen schreibe, ist sie Teil des medialen Alltags geworden. Der Mehrheit der Fans in England mag Taktik auch weiterhin egal sein. Doch eine nicht unbedeutende Minderheit will am Montagabend nicht mehr auf Jamie Carraghers und Gary Ne villes Analysen der Spielszenen vom vorangegangenen Wochenende verzichten. Jede Zeitung bringt in schöner Regelmäßigkeit Taktikkolumnen, es gibt ein gutes Dutzend Taktikblogs, und Begriffe wie „falsche Neun“ oder „inverser Flügelspieler“ sind in aller Munde.
Revolutionen auf dem Rasen war Teil dieser Bewegung. Anders als manche meinen, war das Buch jedoch keinesfalls ihr Auslöser. Vielmehr ist es auf einen Zug aufgesprungen, der ohnehin schon Fahrt aufgenommen hatte. Vielleicht hat es aber dazu beigetragen, denjenigen einen historischen Zusammenhang zu vermitteln, die sich für die Analyse des Geschehens auf dem Rasen interessieren. Zwar ist im englischen Fußball mitunter auch heute noch eine gewisse Fortschrittsfeindlichkeit zu spüren, doch der Fußballkonsument wird mit jedem Tag ein wenig anspruchsvoller. Bei manchem mag das Interesse an der Taktik sogar überhandgenommen haben und zur Besessenheit geworden sein.
Ich habe es bereits in der Einführung zur ersten Auflage des Buches gesagt, doch da mich offenbar viele Menschen für einen Taktikfundamentalisten halten, möchte ich es hier noch einmal wiederholen: Ich glaube keineswegs, dass Taktik das Einzige ist, was die Spielweise einer Mannschaft bestimmt. Ich glaube auch nicht, dass Taktik immer der entscheidende Faktor für den Ausgang eines Spiels ist. Taktik ist vielmehr ein Faktor unter vielen, der sogar vielleicht öfter vernachläs sigt wird. Sie ist nur ein Puzzleteil neben Geschick, Fitness, Motivation, Kraft und Glück. Ja, ich glaube, dass man Taktik gar nicht von den übrigen Faktoren trennen kann. Ein körperlich fittes Team muss anders spielen als ein ausgelaugtes. Ein Team mit mangelndem Selbstbewusstsein muss möglicherweise vorsichtiger agieren. Ein Team mit Spielern auf Kreisklassenniveau muss so aufgestellt sein, dass es diese Defizite kompensieren kann. Alles hängt miteinander zusammen.
Des Weiteren wirken die Bezeichnungen für die Formationen mitunter ein wenig willkürlich. Wie weit genau muss die zweite Spitze hinter dem echten Mittelstürmer spielen, damit aus einem 4-4-2 ein 4-4-1-1 wird? Und wie weit müssen die äußeren Mittelfeldspieler aufrücken, damit daraus dann ein 4-2-3-1 werden kann? Und lässt sich der Stürmer ein wenig fallen und rücken die Außen auf, handelt es sich dann noch um ein 4-2-3-1, oder ist ein 4-2-1-3 oder gar ein 4-3-3 daraus geworden? Warum beschreiben wir manche 4-2-3-1-Formation angesichts nicht selten hoch stehender Außenverteidiger, die auf einer Linie mit den defensiven Mittelfeldspielern agieren, nicht als 2-4-3-1? Solche Begrifflichkeiten sind also im Grunde nur Werkzeuge, die sich eingebürgert haben, um eine grundsätzliche Vorstellung von einer Formation zu vermitteln.
In der Fußballtaktik gibt es nur wenige unumstößliche Grundsätze, und ganz sicher gibt es keine Königsformation, auch wenn ich das in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt worden bin. Zwar müssen Offensive und Defensive grundsätzlich in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, trotzdem hängt vieles auch von den Umständen ab: von den zur Verfügung stehenden Spielern, von ihrem körperlichen und mentalen Zustand, von den Bedingungen, von der Form, von den Zielen einer Mannschaft – und natürlich vom Gegner und dessen Spielern, Formation und körperlicher und mentaler Verfassung. Nicht nur steht alles in Relation zueinander, es ist auch alles relativ.
Die erste englische Auflage dieses Buches schloss mit einigen Beobachtungen zu den stürmerlosen Formationen, die beim AS Rom und Manchester United zum Einsatz kamen. Zitiert wurde auch die Theorie von Carlos Alberto Parreira, dass das 4-6-0 die taktische Formation der Zukunft sei. Der Begriff der falschen Neun kam darin nicht vor, aber diese Bezeichnung haben wir uns mittlerweile für den Mann angewöhnt, der sich aus dem früher üblichen Aktionsbereich des klassischen Mittelstürmers nach hinten fallen lässt. Die Tatsache, dass dieser Begriff mittlerweile so häufig gebraucht und auf Anhieb verstanden wird, deutet nicht nur auf einen verbreiteten Trend hin. Er belegt auch, wie sehr das Interesse an taktischer Analyse in den vergangenen Jahren gewachsen ist.
In den Jahren seit dem ersten Erscheinen des Buchs in England machte Pep Guardiola den FC Barcelona zur weltweit besten Mannschaft seit mindestens 20 Jahren und gestaltete dabei auch die fußballtaktische Landschaft neu. Diese Neuauflage erörtert Ursprünge und Umsetzung seiner Philosophie und untersucht deutlich detaillierter als das Original, wie sich dieses Kurzpassspiel vom schottischen FC Queen’s Park über Newcastle United und Tottenham Hotspur bis hin zu Ajax Amsterdam und dem FC Barcelona entwickelte. Das Buch beleuchtet die weitere Entwicklung des Totaalvoetbal unter Louis van Gaal und Marcelo Bielsa und versucht dabei auch, den FC Barcelona in diesem Kontext zu verorten. Dazu wirft es einen Blick auf die Anfänge des spanischen Fußballs, und ebenso darauf, wie La Furia in der Zeit vor Vic Buckingham und Rinus Michels zum spanischen Ideal aufsteigen konnte.
Ergänzungen sind allerdings überall im Buch zu finden. Sie bieten differenziertere Interpretationen, Präzisierungen und Erweiterungen. Die Neuauflage enthält zudem weitaus mehr Details, wie beispielsweise zum britischen Fußball in der Epoche zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Hier hatte ich möglicherweise den Eindruck vermittelt, dass man in dieser Zeit von einem roboterhaften 2-3-5 besessen gewesen sei. Ebenso war die Geburt der Dreier-Abwehrreihe in den 1920er Jahren ein deutlich langsamerer und komplizierterer Prozess, als ich zur Kenntnis genommen habe: Erstaunlicherweise behandelte C. B. Fry die Dreier-Abwehrreihe bereits 1897. Auch zur Rückkehr der Dreier-Abwehr Anfang der 1980er Jahre gibt es deutlich