TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов

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allein aus Selbstschutz hätte ich damals kein Tagebuch führen können. Dazu kamen die ständigen Hausdurchsuchungen. Ich hätte, was ich aufschrieb, verstecken müssen. Aber wo? Wahrscheinlich wären die Notizen gleich bei der ersten Hausdurchsuchung gefunden worden. Und dann hätten die Behörden natürlich ein großartiges Beweismittel gegen mich und meine Freunde in der Hand gehabt. Einmal angenommen, ich hätte damals ein Tagebuch schreiben wollen, hätte ich es so führen müssen, dass es im Falle der Beschlagnahme durch den Geheimdienst nicht gegen uns hätte verwendet werden können. Ich hätte das Erfahrene, Erlebte und Erlittene verschlüsseln, verklausulieren oder fingieren müssen. Über Ihre Frage habe ich noch nie nachgedacht, aber es könnte sein, dass das alles eine Rolle gespielt hat. In einer anderen Zeit vielleicht oder unter anderen Lebensumständen hätte ich vielleicht Tagebuch schreiben wollen, können, sollen. Aber ich glaube, kein einziger Freund oder Bekannter hat in Rumänien Tagebuch geschrieben, das wäre undenkbar gewesen. Auch haben uns die Ruhe und die Kraft gefehlt, die zum Schreiben eines Tagebuchs, so denke ich, nötig sind.

      Schrift wird in diktatorischen Systemen also zum Gefährdungsmoment, macht angreifbar und verwundbar.

      Wie bereits gesagt, wäre ein solches reflektiertes Schreiben für mich allein schon aus psychologischen Gründen gefährlich gewesen, weil mir dabei die eigene Notlage, die Gefährdung, die Angst erst so richtig vor Augen getreten wären. Für so etwas habe ich Abstand gebraucht. Erst während der Arbeit an »Niederungen« ist mir zum Beispiel auch so richtig bewusst geworden, was meine Kindheit eigentlich für mich bedeutet hat, welche Verhältnisse damals herrschten, wie schrecklich abgelegen und unheimlich diese ganze Gegend war, wie eine kleine verschlossene Kiste. Ich bin von dort weggegangen, mir war dieser Kindheitsort zuwider, hatte aber dennoch eine lange Zeit unendliches Heimweh danach. All das ist mir erst durchs Aufschreiben bewusst geworden.

      Und noch ein Letztes zum Tagebuch: Beim Schreiben, wenn man also ins Wort geht, bewegt man sich in ein anderes Feld der Erfahrung hinein. Die Sprache ist ja ein ganz künstliches Metier und es stellt sich die Frage, wie komme ich davon wieder los, wenn ich etwas schon einmal, beispielsweise im Tagebuch, fixiert habe. Soll ich das jetzt respektieren, weil es Sprache ist und ich, wenn ich an einem fiktionalen Text arbeite, auch in der Sprache bin, oder soll und kann ich dieses Fixierte außer Acht lassen? Irgendwie sind solche Aufzeichnungen in ihrer ja doch literarischen Form eine Art ›Zwischenlandung‹. Und was mache ich dann damit?

      Erinnerung ist oft unscharf, manchmal trügt sie. Besonders wenn man aus dem Kopf zitiert, führt das zu teils kuriosen Fehlern. Prüfen Sie zum Beispiel Zitate, um Irrtümer zu vermeiden? Etwa wenn Sie, wie in »Der Fuchs war damals schon der Jäger« oder »Herztier«, Gedichte und Lieder zitieren?

      So ist das, wenn man Zitate, die man auswendig zu wissen glaubt, nach Jahren aufschreibt, so wie man sie im Kopf mit sich herumträgt. Und dann sagt dir ein Lektor, das Zitat stimmt nicht. Ist nicht möglich, denkst du, schaust nach und merkst, dass du es über die Jahre zugeschnitten hast, vielleicht einer inneren Notwendigkeit folgend. Generell ist Recherche wichtig, weil auch das Fiktionale Glaubwürdigkeit braucht. Wenn du beispielsweise einen Ortsnamen oder ein Geschichtsdatum verwendest, dann kannst du zwar in deinem Roman darüber schreiben, aber sollten der Name oder das Datum nicht korrekt sein, wird die Glaubwürdigkeit des Textes beschädigt. Für »Atemschaukel« etwa war eine solche Korrektheit für mich selbstverständlich. Um über Deportation und über das Leben in einem Lager zu schreiben, war ein hohes Maß an Recherche unerlässlich. Ich musste beispielsweise wissen, wie viele deportiert wurden und wann, und da der Abtransport im Januar erfolgte, konnte ich die Bilder, die vom Erfrieren handeln, verwenden, aber wenn er im Mai oder im Sommer erfolgt wäre, hätte ich mit anderen Bildern arbeiten müssen. Recherche ist auch Verantwortung gegenüber dem Gegenstand, über den man schreibt.

      Etwas anderes ist es, wenn sich im Laufe der Zeit die Ansichten über etwas verändern, weil man Neues erfährt, weil Wissen hinzukommt, beispielsweise durch Lektüren, Begegnungen und Gespräche. Dann bin ich auch nicht immer einverstanden mit dem, was ich früher gedacht oder für richtig gehalten habe. Mit wissentlicher Täuschung hat das aber nichts zu tun. Ansichten kann man korrigieren, auch öffentlich korrigieren, wenn sie sich als falsch herausgestellt haben, weil man es nicht besser wusste oder weil man es gar nicht wusste oder weil man es anders wusste, das passiert ja.

      Wann sind Sie das erste Mal mit Literatur in Berührung gekommen? Sie haben in einem frühen Interview im Zusammenhang mit den »Niederungen« einmal auf Werke Franz Innerhofers und Thomas Bernhards als jeweils prägende und wichtige Lektüreerfahrungen hingewiesen. Diese fanden aber wahrscheinlich erst statt, nachdem Sie aus Ihrem Heimatdorf weggezogen waren.

      Natürlich. Ich hatte als Kind gar keine Bücher abgesehen von Kinderbüchern aus der Schule. Die bekam ich am Ende des Schuljahrs als Prämie für gute Leistungen. Ich bekam stets solche Prämien, weil meine Mutter mich trimmte, die Erste zu sein, obwohl ich beispielsweise überhaupt nicht rechnen konnte, im Turnen nicht gut war und es mit dem Akkordeonspielen und der Musik nicht klappte. Aber für meine Leistungen in anderen Fächern habe ich immer diese Kinderbücher überreicht bekommen, rumänische Kinderbücher, die »Der allmächtige Igel« oder so ähnlich hießen. Das waren natürlich immer ideologische Bücher für Kinder. In einem dieser Bücher gab es beispielsweise eine Ameise und eine Grille, und die Ameise war dort das Vorbild für die fleißigen Menschen im Sozialismus und die Grille war der Kapitalist. Für mich waren diese Bücher völlig uninteressant. Statt sie zu lesen, wurden sie bei uns zu Hause als Topfuntersetzer benutzt. Alle unsere Topfuntersetzer waren meine Prämienbücher vom Schuljahresende. Die wurden dann ein Jahr lang genutzt, und wenn ich im darauffolgenden Jahr neue Buchprämien mit nach Hause brachte, wurden sie gegen die alten ausgetauscht.

      Gelesen wurde bei uns zu Hause nicht. Es gab in meinem Elternhaus Reste aus der Bibliothek meines Onkels, der im Krieg gefallen war. Er war ein überzeugter Nazi, der in unserem Dorf eine schreckliche Rolle gespielt hat, nicht nur, weil er Menschen denunzierte, die nicht in den Krieg ziehen wollten. Er glaubte, weil er studiert hatte, den großen Dorfideologen geben zu müssen, und kam sich selbst wie ein Führer vor, wie der Führer des Dorfes. Dieser Onkel besaß eine große Bibliothek, die meine Großmutter großteils im Backofen verbrannte, als die Russen kamen. Als einfacher Mensch wusste sie nicht, welche Bücher möglicherweise gefährlich sein konnten. Sie war ganz allein, hatte Angst. Mein Großvater war in dieser Zeit als Angehöriger der sogenannten ausbeutenden Klasse in ein Lager in der Dobrudscha deportiert, meine Mutter in Russland im Arbeitslager. Meine Großmutter ließ nur einige wenige Bücher übrig, die dick und schwer waren, in Leinen gebunden und mit Goldlettern versehen: ein Lexikon, das ihr unverfänglich schien, eine deutsche Lebensschule mit Nazipropaganda über Gesundheit und Körperkultur und ein großes medizinisches Buch, in dem man sich Organe ansehen konnte. Dieses Buch habe ich als Kind geliebt. Aber sonst hatten wir keine. Es gab eine Dorfbibliothek, aber dort befanden sich auch keine anderen Bücher als die, die ich in der Schule geschenkt bekam. Meine Großmutter hat hier und da mal Märchen erzählt, Rotkäppchen zum Beispiel. Über meinem Bett hing ein Bild mit Rotkäppchen. Das war so schlecht gemalt, dass ich von den Steinen dachte, sie seien große Gurken.

      Ich habe in einem Ihrer Essays gelesen, dass Sie in der Schule einmal ein Parteigedicht aufsagen mussten, sie dann aber ein Gedicht über eine Schwalbe vortrugen. War das schon eine frühe Form des ›Eigensinns‹, aus dem heraus später Ihre Literatur entstanden ist.

      Das war noch im Kindergarten, irgendwann im Winter. Das Gedicht handelt von der Schwalbe als Maurer. Ich kann mich nur noch an die erste Zeile erinnern: Wer war der kleine Maurer? Es ging darum, dass sich die Schwalbe ein Nest aus Schlamm mauert. Weihnachten als christliches Fest war in dieser Zeit offiziell abgeschafft, es gab nur das Frostmännchen, das allerdings erst am 1. Januar kam, die Rumänen hatten es von den Sowjets übernommen. Dann erst gab es auch Tannenbäume, nicht bereits an Weihnachten. Ich sollte an einer Frostmännchen-Feier ein Parteigedicht aufsagen, das meine Mutter von der Kindergartendirektion erhalten hatte. Meine Mutter versuchte vergeblich, es mir einzubläuen. Da ich noch nicht lesen konnte, hat sie es mir wieder und wieder vorgesagt, aber vergeblich.

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