Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Stefan Zweig

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Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers - Stefan Zweig

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Jahren die deutsche Bühne, Stefan George, Rainer Maria Rilke hatten mit dreiundzwanzig Jahren – also früher, als man nach dem österreichischen Gesetz für mündig erklärt wurde – literarischen Ruhm und fanatische Gefolgschaft. In unserer eigenen Stadt entstand über Nacht die Gruppe des „jungen Wien“ mit Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenberg, in denen die spezifisch österreichische Kultur durch eine Verfeinerung aller Kunstmittel zum erstenmal europäischen Ausdruck fand. Aber vor allem war es eine Gestalt, die uns faszinierte, verführte,berauschte und begeisterte, das wunderbare und einmalige Phänomen Hugo von Hofmannsthals, in dem unsere Jugend nicht nur ihre höchsten Ambitionen, sondern auch die absolute dichterische Vollendung in der Gestalt eines beinahe Gleichaltrigen sich ereignen sah.

      Die Erscheinung des jungen Hofmannsthal ist und bleibt denkwürdig als eines der großen Wunder früher Vollendung; in der Weltliteratur kenne ich bei solcher Jugend außer bei Keats und Rimbaud kein Beispiel ähnlicher Unfehlbarkeit in der Bemeisterung der Sprache, keine solche Weite der ideellen Beschwingtheit, kein solches Durchdrugensein mit poetischer Substanz bis in die zufälligste Zeile, wie in diesem großartigen Genius, der schon in seinein sechzehnten und siebzehnten Jahr sich mit unverlöschbaren Versen und einer noch heute nicht überbotenen Prosa in die ewigen Annalen der deutschen Sprache einge schrieben hat. Sein plötzliches Beginnen und zugleich schon Vollendetsein war ein Phänomen, wie es sich innerhalb einer Generation kaum ein zweites Mal ereignet. Als beinahe übernatürliches Begebnis haben darum all jene das Unwahrscheinliche seiner Erscheinung angestaunt, die zuerst davon Kunde erhielten Hermann Bahr erzählte mir oft von dem Staunen, als er für seine Zeitschrift gerade aus Wien einen Aufsatz von einem ihm unbekannten „Loris“ – eine öffentliche Publikation unter eigenem Namen war im Gymnasium unerlaubt – erhielt; nie hatte er unter Beiträgen aus aller Welt eine Arbeit empfangen, die in so beschwingter adeliger Sprache solchen gedanklichen Reichtum gleichsam mit leichter Hand hinstreute. Wer ist „Loris“, wer dieser Unbekannte, fragte er sich. Ein alter Mann gewiß, der in Jahren und Jahren seine Erkenntnisse schweigsam gekeltert hat und in geheimnisvoller Klausur die sublimsten Essenzen der Sprache zu einer fast wollüstigen Magie kultiviert. Und solch ein Weiser, solch ein begnadeter Dichter lebte in derselben Stadt, und er hatte nie von ihm gehört! Bahr schrieb sofort sdem Unbekannten und verabredete eine Besprechung in einem Kaffeehaus – dem berühmten Café Griensteidl, dem Hauptquartier der jungen Literatur. Plötzlich kam mit leichen, raschen Schritten ein schlanker, noch unbärtiger Gymnasiast mit kurzen Knabenhosen an seinen Tisch, verbeugte sich und sagte mit einer hohen, noch nicht ganz mutierten Stimme knapp und entschieden: „Hofmannsthal! Ich bin Loris.“ Nach Jahren noch, wenn Bahr von seiner Verblüffung erzählte, überkam ihn die Erregung. Er wollte es zuerst nicht glauben. Ein Gymnasiast, dem solche Kunst, solche Weitsicht, solche Tiefsicht, solche stupende Kenntnis des Lebens vor dem Leben zu eigen war! Und beinahe das gleiche berichtete mir Arthur Schnitzler. Er war damals noch Arzt, da seine ersten literarischen Erfolge noch keineswegs Sicherung der Lebensexistenz zu verbürgen schienen; aber er galt schon als Haupt des „jungen Wien“, und die noch Jüngeren wandten sich gern an ihn um Rat und Urteil. Bei zufälligen Bekannten hatte er den hochaufgeschossenen jungen Gymnasiasten kennengelernt, der ihm durch seine behende Klugheit auffiel, und als dieser Gymnasiast die Gunst erbat, ihm ein kleines Theaterstück in Versen vorlesen zu dürfen, lud er ihn gerne in seine Junggesellenwohnung, freilich ohne große Erwartung – nun eben ein Gymnasiastenstück, sentimentalisch oder pseudoklassisch, dachte er. Er bestellte einige Freunde; Hofmannsthal erschien in seinen kurzen Knabenhosen, etwas nervös und befangen, und begann zu lesen. „Nach einigen Minuten“, erzählte mir Schnitzler, „horchten wir plötzlich scharf auf und tauschten verwunderte, beinahe erschrockene Blicke. Verse solcher Vollendung, solcher fehlloser Plastik, solcher musikalischer Durchfühltheit, hatten wir von keinem Lebenden je gehört, ja seit Goethe kaum für möglich gehalten. Aber noch wunderbarer als diese einmalige (und seitdem von niemandem in deutscher Sprache mehr erreichte) Meisterschaft der Form war die Weltkenntnis, die nur aus magischer Intuition kommen konnte bei einem Knaben, der tagsüber auf der Schulbank saß.“ Als Hofmannsthal endete, blieben alle stumm. „Ich hatte“, sagte mir Schnitzler, „das Gefühl, zum erstenmal im Leben einem geborenen Genie begegnet zu sein, und ich habe es in meinem ganzen Leben nie mehr so überwältigend empfunden.“ Wer so mit sechzehn begann – oder vielmehr nicht begann, sondern schon vollendet war im Beginnen –, mußte ein Bruder Goethes und Shakespeares werden. Und wirklich, die Vollendung schien sich immer mehr zu vollenden: nach diesem ersten Versstück „Gestern“ kam das grandiose Fragment des „Tod des Tizian“, in dem die deutsche Sprache sich zu italienischem Wohllaut erhob, kamen die Gedichte, deren jedes einzelne für uns ein Ereignis war und die ich heute noch nach Jahrzehnten Zeile für Zeile auswendig weiß, kamen die kleinen Dramen und jene Aufsätze, die Reichtum des Wissens, fehllosen Kunstverstand, Weite des Weltblicks magisch in den wunderbar ausgesparten Raum von ein paar Dutzend Seiten zusammendrängten: alles, was dieser Gymnasiast, dieser Universitätsstudent schrieb, war wie Kristall, von innen her durchleuchtet, dunkel und glühend zugleich. Der Vers, die Prosa schmiegten sich wie duftendes Wachs vom Hymettos in seine Hände, immer hatte durch ein unwiederholbares Wunder jede Dichtung ihr richtiges Maß, nie ein Zuwenig, nie ein Zuviel, immer spürte man daß ein Unbewußtes, ein Unbegreifliches geheimnisvoll ihn lenken mußte auf diesen Wegen ins bisher Unbetretene.

      Wie ein solches Phänomen uns, die wir uns erzogen hatten, Werte zu spüren, faszinierte, vermag ich kaum wiederzugeben. Denn was kann einer jungen Generation Berauschenderes geschehen, als neben sich, unter sich den geborenen, den reinen, den sublimen Dichter leibhaft nahe zu wissen, ihn, den man sich immer nur in den legendären Formen Hölderlins und Keats’ und Leopardis imaginierte, unerreichbar und halb schon Traum und Vision? Deshalb erinnere ich mich auch so deutlich an den Tag, da ich Hofmannsthal zum erstenmal in persona sah. Ich war sechzehn Jahre alt, und da wir alles, was dieser unser idealer Mentor tat, geradezu mit Gier verfolgten, erregte mich eine kleine versteckte Notiz in der Zeitung außerordentlich, daß in dem „Wissenschaftlichen Klub“ ein Vortrag von ihm über Goethe angekündigt sei (unvorstellbar für uns, daß ein solcher Genius in einem so bescheidenen Rahmen sprach; wir hätten in unserer gymnasiastischen Anbetung erwartet, der größte Saal müsse vollgedrängt sein, wenn ein Hofmannsthal seine Gegenwart öffentlich gewährte). Aber bei diesem Anlaß gewahrte ich wiederum, wie sehr wir kleinem Gymnasiasten in unserer Wertung, in unserem – nicht nur hier – als richtig erwiesenen Instinkt für das Überdauernde dem großen Publikum und der offiziellen Kritik schon voraus waren; etwa zehn bis zwölf Dutzend Zuhörer hatten sich im ganzen in dem engen Saal zusammengefunden: es wäre also nicht notwendig gewesen, daß ich in meiner Ungeduld schon eine halbe Stunde zu früh mich aufmachte, um mir einen Platz zu sichern. Wir warteten einige Zeit, dann ging plötzlich ein schlanker, an sich unauffälliger junger Mann durch unsere Reihen auf das Pult zu und begann so unvermittelt, daß ich kaum Zeit hatte, ihn richtig zu betrachten. Hofmannsthal sah mit seinem weichen, nicht ganz ausgeformten Sehnurrbärtchen und seiner elastischen Figur noch jünger aus, als ich erwartet hatte. Sein scharf profiliertes, etwas italienisch-dunkles Gesicht schien nervös gespannt, und zu diesem Eindruck trug die Unruhe seiner sehr dunklen, samtigen, aber stark kurzsichtigen Augen noch bei, er warf sich gleichsam mit einem einzigen Ruck in die Rede hinein wie ein Schwimmer in die vertraute Flut, und je weiter er sprach, desto freier wurden seine Gesten, desto sicherer seine Haltung; kaum war er im geistigen Element, so überkam ihn (dies bemerkte ich später auch oft im privaten Gespräch) aus einer anfänglichen Befangenheit eine wunderbare Leichtigkeit und Beschwingtheit wie immer den inspirierten Menschen. Nur bei den ersten Sätzen bemerkte ich noch, daß seine Stimme unschön war, manchmal sehr nahe dem Falsett und sich leicht überkippend, aber schon trug die Rede uns so hoch und frei empor, daß wir nicht mehr die Stimme und kaum sein Gesicht mehr wahrnahmen. Er sprach ohne Manuskript, ohne Notizen, vielleicht sogar ohne genaue Vorbereitung, aber jeder Satz hatte aus dem zauberhaften Formgefühl seiner Natur vollendete Rundung. Blendend entfalteten sich die verwegensten Antithesen, um sich dann in klaren und doch überraschenden Formulierungen zu lösen. Bezwingend hatte man das Gefühl, daß dies Dargebotene nur zufällig Hingestreutes sei einer viel größeten Fülle, daß er, beschwingt, wie er war, und aufgehoben in die obere Sphäre, noch Stunden und Stunden so weitersprechen könnte, ohne sich zu verarmen und sein Niveau zu vermindern. Auch im privaten Gespräch habe ich in späteren Jahren

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