Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Stefan Zweig

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Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers - Stefan Zweig

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ausgesetzt, oft mürrisch und nervös im privaten Umgang, und ihm nahezukommen war nicht leicht. Im Augenblick aber, da ein Problem ihn interessierte, war es wie eine Zündung; in einem einzigen raketenhaft blitzenden, glühenden Flug riß er dann jede Diskussion in die ihm eigene und nur ihm ganz erreichbare Sphäre empor. Außer manchmal mit Valéry, der gemessener, kristallinischer dachte, und dem impetuosen Keyserling habe ich nie ein Gespräch ähnlich geistigen Niveaus erlebt wie mit ihm. Alles war in diesen wahrhaft inspirierten Augenblicken seinem dämonisch wachen Gedächtnis gegenständlich nah, jedes Buch, das er gelesen, jedes Bild, das er gesehen, jede Landschaft; eine Metapher band sich der andern so natürlich wie Hand mit Hand, Perspektiven hoben sich wie plötzliche Kulissen hinter dem schon abgeschlossen vermeinten Horizont – in jener Vorlesung zum erstenmal und später bei persönlichen Begegnungen habe ich wahrhaft den „flatus“, den belebenden, begeisternden Anhauch des Inkommensurablen, des mit der Vernunft nicht voll Erfaßbaren bei ihm gefühlt.

      In einem gewissen Sinn hat Hofmannsthal nie mehr das einmaligeWunder überboten, das er von seinem sechzehnten bis etwa zum vierundzwanzigsten Jahre gewesen. Ich bewundere nicht minder manche seiner späteren Werke, die herrlichen Aufsätze, das Fragment des „Andreas“, diesen Torso des vielleicht schönsten Romans deutscher Sprache, und einzelne Partien seiner Dramen; aber mit seiner stärkeren Bindung an das reale Theater und die Interessen seiner Zeit, mit der deutlichen Bewußtheit und Ambitioniertheit seiner Pläne ist etwas von dem Traumwandlerisch-Treffenden, von der reinen Inspiriertheit jener ersten knabenhaften Dichtungen und damit auch von dem Rausch und der Ekstase unserer eigenen Jugend dahingegangen. Mit dem magischen Wissen, das Unmündigen zu eigen ist, haben wir vorausgewußt, daß dies Wunder unserer Jugend einmalig sei und ohne Wiederkehr in unserem Leben.

      Balzac hat in unvergleichlicher Weise dargestellt, wie das Beispiel Napoleons eine ganze Generation in Frankreich elektrisiert hat. Der blendende Aufstieg eines kleinen Leutnants Bonaparte zum Kaiser der Welt bedeutete für ihn nicht nur den Triumph einer Person, sondern einen Sieg der Idee der Jugend. Daß man nicht als Prinz oder Fürst geboren sein müsse, um Macht früh zu erringen, daß man aus einer beliebigen kleinen und sogar armen Familie stammen und doch mit vierundzwanzig Jahren General, mit dreißig Jahren Gebieter Frankreichs und bald der ganzen Welt sein konnte, dieser einmalige Erfolg trieb Hunderte aus ihren kleinen Berufen und Provinzstädten – der Leutnant Bonaparte hitzte einer ganzen Jugend die Köpfe. Er trieb sie in einen gesteigerten Ehrgeiz; er schuf die Generäle der großen Armee und die Helden und Arrivisten der Comédie Humaine. Immer ermutigt ein einziger junger Mensch, der, auf welchem Gebiet immer, im ersten Schwunge das bisher Unerreichbare erreicht, durch die bloße Tatsache seines Erfolgs alle Jugend um sich und hinter sich. In diesem Sinne bedeuteten Hofmannsthal und Rilke für uns Jüngere einen ungemeinen Antrieb für unsere noch unausgegorenen Energien. Ohne zu hoffen, daß je einer von uns das Wunder Hofmannsthal wiederholen könnte, wurden wir doch bestärkt durch seine rein körperliche Existenz. Sie bewies geradezu optisch, daß auch in unserer Zeit, in unserer Stadt, in unserem Milieu der Dichter möglich war. Sein Vater, ein Bankdirektor, stammte schließlich aus der gleichen jüdisch-bürgerlichen Schicht wie wir andern, der Genius war in einem ähnlichen Hause wie mit gleichen Möbeln und gleicher Standesmoral aufgewachsen, in ein ebenso steriles Gymnasium gegangen, er hatte aus denselben Lehrbüchern gelernt und war auf denselben hölzernen Bänken acht Jahre gesessen, ähnlich ungeduldig wie wir, ähnlich passioniert für alle geistigen Werte; und siehe, es war ihm gelungen, noch während er seine Hosen auf diesen Bänken wetzen und in dem Turnsaal herumtrappen mußte, den Raum und seine Enge, die Stadt und die Familie zu überwinden durch diesen Aufschwung ins Grenzenlose. Durch Hofmannsthal war uns gewissermaßen ad oculos demonstriert, daß es prinzipiell möglich sei, auch in unseren Jahren und selbst in der Kerkeratmosphäre eines österreichischen Gymnasiums Dichterisches, ja dichterisch Vollendetes zu schaffen. Es war möglich sogar – ungeheure Verlockung für ein knabenhaftes Gemüt! –, schon gedruckt, schon gerühmt, schon berühmt zu sein, während man zu Hause und in der Schule noch als halbwüchsiges, unbeträchtliches Wesen galt.

      Rilke wiederum bedeutete uns eine Ermutigung anderer Art, die jene durch Hofmannsthal in einer beruhigenden Weise ergänzte. Denn mit Hofmannsthal zu rivalisieren wäre selbst dem Verwegensten unter uns blasphemisch erschienen. Wir wußten: er war ein einmaliges Wunder frühreifer Vollendung, das sich nicht wiederholen konnte, und wenn wir Sechzehnjährigen unsere Verse mit jenen hochberühmten verglichen, die er im gleichen Alter geschrieben, erschraken wir vor Scham; ebenso fühlten wir uns in unserem Wissen gedemütigt vor dem Adlerflug, mit dem er noch im Gymnasium den geistigen Weltraum durchmessen. Rilke dagegen hatte zwar gleichfalls früh, mit siebzehn oder achtzehn Jahren, begonnen,Verse zu schreiben und zu veröffentlichen. Aber diese frühen Verse Rilkes waren im Vergleich zu jenen Hofmannsthals und sogar im absoluten Sinne unreife, kindliche und naive Verse, in denen man nur mit Nachsicht ein paar dünne Goldspuren Talent wahrnehmen konnte. Erst nach und nach, im zweiundzwanzigsten, im dreiundzwanzigsten Jahr hatte dieser wundervolle, von uns maßlos geliebte Dichter sich persönlich zu gestalten begonnen; das bedeutete für uns schon einen ungeheuren Trost. Man mußte also nicht wie Hofmannsthal schon im Gymnasium vollendet sein, man konnte wie Rilke tasten, versuchen, sich formen, sich steigern. Man mußte sich nicht sofort aufgeben, weil man vorläufig Unzulängliches, Unreifes, Unverantwortliches schrieb, und konnte vielleicht statt des Wunders Hofmannsthal den stilleren, normaleren Aufstieg Rilkes in sich wiederholen.

      Denn daß wir alle längst zu schreiben oder zu dichten, zu musizieren oder zu rezitieren begonnen hatten, war selbstverständlich; jede passiv-passionierte Einstellung ist ja an sich schon unnatürlich für eine Jugend, denn es liegt in ihrem Wesen, Eindrücke nicht nur aufzunehmen, sondern sie produktiv zu erwidern. Theater zu lieben heißt für junge Menschen zumindest wünschen und träumen: selbst auf dem Theater oder für das Theater zu wirken. Talent in allen Formen ekstatisch zu bewundern führt sie unwiderstehlich dazu, in sich selbst Nachschau zu halten, ob nicht eine Spur oder Möglichkeit dieser erlesensten Essenz in dem eigenen unerforschten Leib oder der noch halb verdunkelten Seele zu entdecken wäre. So wurde in unserer Schulklasse gemäß der Wiener Atmosphäre und den besonderen Bedingtheiten jener Zeit der Trieb zur künstlerischen Produktion geradezu epidemisch. Jeder suchte in sich ein Talent und versuchte es zu entfalten. Vier oder fünf von uns wollten Schauspieler werden. Sie imitierten die Diktion unserer Burgschauspieler, sie rezitierten und deklamierten ohne Unterlaß, nahmen heimlich schon Schauspielstunden und improvisierten in den Schulpausen mit verteilten Rollen ganze Szenen aus den Klassikern, für die wir andern ein neugieriges, aber streng kritisches Publikum bildeten. Zwei oder drei waren ausgezeichnet ausgebildete Musiker, hatten sich aber noch nicht entschlossen, ob sie Komponisten, Virtuosen oder Dirigenten werden wollten; ihnen danke ich die erste Kenntnis der. neuen Musik, die in den offiziellen Konzerten der Philharmoniker noch streng verfemt war – während sie sich wiederum von uns die Texte für ihre Lieder und Chöre holten. Ein anderer, der Sohn eines damals hochberühmten Gesellschaftsmalers, zeichnete während der Stunden uns die Schulhefte voll und porträtierte all die zukünftigen Genies der Klasse. Aber weitaus am stärksten war die literarische Bemühung. Durch die gegenseitige Anstachelung zu immer rascherer Vollendung und die wechselseitig geübte Kritik an jedem einzelnen Gedicht war das Niveau, das wir mit siebzehn Jahren erreichten, weit über das Dilettantische hinaus und näherte sich bei einzelnen wirklich gültiger Leistung, was sich schon dadurch bewies, daß unsere Produktionen nicht etwa nur von obskuren Provinzblättchen, sondern von den führenden Revuen der neuen Generation angenommen, gedruckt und – dies der überzeugendste Beweis – sogar honoriert wurden. Einer meiner Kameraden, Ph. A., den ich wie einen Genius vergötterte, glänzte an erster Stelle im „Plan“, der großartigen Luxuszeitschrift, neben Dehmel und Rilke, ein anderer, A. M., hatte unter dem Pseudonym „August Oehler“ Eingang gefunden in die unzugänglichste, eklektischste aller deutschen Revuen, in die Blätter für die Kunst“, die Stefan George ausschließlich seinem geheiligten, siebenmal gesiebten Kreise vorbehielt. Ein dritter schrieb, von Hofmannsthal ermutigt, ein Napoleondrama, ein vierter eine neue ästhetische Theorie und bedeutsame Sonette; ich selbst hatte in der „Gesellschaft“, dem führenden Blatt der Moderne, und in Maximilian Hardens „Zukunft“, dieser für die politische und kulturelle Geschichte des neuen Deutschlands entscheidenden Wochenschrift, Eingang gefunden. Sehe ich heute zurück, so

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