Perry Rhodan Neo 244: Iratio. Rüdiger Schäfer

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Perry Rhodan Neo 244: Iratio - Rüdiger Schäfer Perry Rhodan Neo

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begreifst du das endlich, imbécil?«

      Als die Klinge in seine Wange drang, spürte der Junge nur eine seltsame Kälte. Der Schmerz in seinem Arm überstrahlte alles, doch die Angst, die das Messer auslöste, verlieh ihm auf einmal Kräfte, von denen er niemals geglaubt hätte, dass sie in ihm steckten. Irgendwie schaffte es Iratio, seine rechte Faust zu befreien. Und er schlug zu. Mit aller Kraft. Genau dorthin, wo die Frau seinen Vater vor wenigen Minuten mit der Flasche erwischt hatte.

      Vater zuckte zurück, als hätte ihn eine Pistolenkugel getroffen. Sein Heulen zeugte von Überraschung, Wut und Schmerz zugleich. Iratio biss die Zähne zusammen und kämpfte sich auf die Beine. Sein Körper fühlte sich an, als müsste er jeden Moment zerplatzen wie ein zu weit aufgeblasener Luftballon. Er stolperte aus dem Zimmer in die Diele. Kurz bevor er das Haus verließ, drehte er sich noch einmal um. Sein Vater hockte auf dem Boden neben seinem Sessel und hielt sich stöhnend die blutende Wange.

      »Hör auf zu flennen!«, schrie Iratio Hondro ihm halb lachend, halb weinend entgegen.

      Dann rannte er durch die noch immer geöffnete Tür in die kühle Nacht hinaus.

      2.

      Quito

      Diesmal war Iratio Hondro sicher, dass er träumte. Er stand an einer steil abfallenden Küste. Links und rechts türmten sich graue Felsen zu einem zerklüfteten Wall auf, der den heranbrandenden Wogen eines mächtigen Ozeans seit Jahrtausenden trotzte. Brecher um Brecher krachte gegen den vom Wasser geschliffenen Stein und erzeugte jedes Mal eine meterhohe Wolke aus Gischt, die ein heftiger Sturm bis hinauf über die Klippen trug.

      Iratio schmeckte das Salz auf seiner Zunge. Dann entdeckte er die Frau. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und gefährlich nah am Abgrund. Ihr dunkles Haar wurde vom Wind in alle Richtungen geweht. Es sah aus wie ein fremdartiges Lebewesen mit unzähligen dünnen Armen, das sich verzweifelt an sie klammerte und sich auf ihrem Kopf zu halten versuchte.

      Der Junge streckte die Hand aus. Er wollte die Frau warnen, ihr zurufen, dass sie zurücktreten müsse, bevor sie von einer der starken Böen erfasst und über die Felskante geblasen würde. Doch der Sturm riss ihm die Worte von den Lippen. Vielleicht sprach er sie auch gar nicht wirklich aus, denn seine Ohren vernahmen nur das Heulen und Fauchen des Unwetters, das mit jeder Sekunde schlimmer zu werden schien.

      Die Frau streckte die Arme zur Seite, als wollte sie ein Paar Flügel spreizen und sich in die Luft erheben. Ihr langes, weißes Kleid flatterte wie eine Fahne. Iratio musste etwas tun, aber er konnte sich nicht bewegen, sosehr er es auch wollte. Als die Frau den Kopf drehte und den Blick auf ihn richtete, erkannte er sie. Vor ihm, auf der sturmumtosten Klippe, stand ... seine Mutter. Er hatte sie nie kennengelernt, denn sie war nach der Rückkehr der Memeterarche AVEDANA-NAU zur Erde gestorben – zusammen mit einigen Zehntausend anderen, die die lange Reise und den biologischen Tiefschlaf aus diversen Gründen nicht überlebt hatten. Alles, was Iratio von ihr geblieben war, waren ein paar Holoaufnahmen.

      »Mamá ...«, rief er gegen den Wind an.

      Doch sie ignorierte ihn und drehte ihm wieder den Rücken zu. Ein oder zwei Sekunden verstrichen in quälender Langsamkeit. Dann kippte die Frau wie in Zeitlupe nach vorn. Für einen kurzen Moment war Iratio von der irrigen Hoffnung erfüllt, dass sie tatsächlich fliegen könnte, dass sie davonschweben, eine kurze Runde drehen und neben ihm landen würde, um ihn in die Arme zu schließen. Doch natürlich geschah das nicht.

      Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich der Junge endlich in Bewegung setzen konnte. Seine Augen suchten die Felslandschaft ab, die von einem blassen Mond nur unzureichend erhellt wurde. Die Frau war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

      Du bist schuld!, brüllte die lästige Stimme in ihm so laut, dass sein Kopf zu zerspringen drohte. Du hättest sie aufhalten können und hast nichts getan. Sie ist wegen dir gestorben!

      »Nein ...« Das Wort tropfte zäh und widerwillig aus seinem Mund, während sich der Regen mit seinen Tränen vermischte. »Nein ... ich ... Ich war doch noch ein Kind ...«

      Er erwachte mit einem Schrei, fuhr hoch ... und spürte eine Hand auf seiner heißen Stirn, die ihn niederdrückte.

      »Ruhig, mein Kleiner«, sagte eine raue, jedoch eindeutig weibliche Stimme. »Dich hat es ziemlich heftig erwischt. Aber keine Sorge. Du bist jung und stark. Das kriegen wir wieder hin.«

      Iratio ließ sich zurücksinken. Er blinzelte, weil er seine Umgebung nur verschwommen erkennen konnte. Erst nach und nach klärte sich sein Blick.

      Er lag in einer Art Zelt, das mit einer Unzahl von Dingen vollgestopft war. Stapel aus Folienzeitungen, zerschlissene Decken und Tücher, Eimer und Kisten mit undefinierbaren Inhalten und eine Menge Kram, den die meisten Menschen auf den ersten und häufig auch auf den zweiten Blick als Unrat bezeichnet hätten.

      Iratios Lager bestand aus einer zerschlissenen Matratze, die – dem Rascheln bei jeder Bewegung nach zu urteilen – mit Zeitungsfolien ausgepolstert war. Sein Kopf ruhte auf einem ebenfalls mit Zeitungen gefüllten Sack aus grobem Leinen, der einmal Kaffeebohnen enthalten hatte. Es roch nach heißer Suppe; überhaupt herrschte im Innern des Zelts eine wohlige Wärme.

      »Wo ... Wo bin ich?«, stellte der Junge die naheliegendste Frage.

      Die unbekannte Frau an seiner Seite lachte leise. »La Floresta«, antwortete sie dann. »In der Nähe der Neuen Universität. Von hier haben uns die Oficiales bisher noch nicht vertrieben. Zumindest nicht aus den Randgebieten.«

      La Floresta? Iratios Verstand kam nur schwerfällig in Gang. Das war das Künstlerviertel von Quito. Eine ehemalige Touristenhochburg, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr zu einem Sammelbecken für Aussteiger, Maler, Musiker, Artisten und alle Sorten von Leuten entwickelt hatte, die kreativ, weltoffen und modern waren oder sich zumindest dafür hielten. Die meisten hatten mindestens ein halbes Dutzend gescheiterter Karrieren auf allen möglichen Gebieten hinter sich und fanden in dem Areal, das von alten Häusern mit bunten Fassadenbildern und unzähligen kleinen Läden und Galerien dominiert wurde, eine billige Bleibe und die Zeit, sich neu zu orientieren. In diese Gegend hatten sich irgendwann auch die Desamparados verirrt, die Obdachlosen der Stadt, nachdem man sie nach und nach aus den hellen und citynahen Bezirken verscheucht hatte. Zu ihnen gehörte wohl auch die Frau.

      Als sich Iratio diesmal – deutlich vorsichtiger – aufrichtete, hielt ihn seine Gastgeberin nicht zurück. Er stützte sich auf die Ellbogen und musterte die ältere Frau, die neben ihm hockte und ihn mit einem verhärmt wirkenden Gesicht anlächelte. Sie trug ein Potpourri aus Röcken, Pullovern, Jacken und Schals, das sie etwa doppelt so beleibt aussehen ließ, wie sie tatsächlich war. Ihre grauen Haare steckten größtenteils unter einer verblichenen Schirmmütze mit dem Logo von El Nacional, einer beliebten Fußballmannschaft aus Ecuadors Hauptstadt.

      »Ich habe dich halb bewusstlos und beinahe erfroren in einem Hauseingang in der Rafael Leon gefunden. Lass mich raten: Du bist von zu Hause weggelaufen, stimmt's?«

      Iratio nickte. Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber auf jeden Fall nicht gelogen.

      Die Frau schlug die dünne Decke zurück, die sie über ihn gelegt hatte. Erst da bemerkte der Junge, dass sein gebrochener Arm mit einer schmalen Kunststoffleiste geschient war. Instinktiv fuhr er sich mit der Rechten an die Wange, wo ihn Vater mit dem Messer verletzt hatte, und ertastete einen dicken Verband. Der Schnitt war tief gewesen und hatte stark geblutet. Wahrscheinlich war er der Grund, warum er schließlich umgekippt war. An die letzten Minuten vor seiner Ohnmacht konnte er sich nur noch sehr verschwommen erinnern.

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