Aus den Akten der Agence O. Georges Simenon
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Читать онлайн книгу Aus den Akten der Agence O - Georges Simenon страница 4
Jetzt züngelt eine kleine Flamme aus dem Umschlag, und dann, wenig später, ist er samt seines Inhalts verbrannt.
»Da hast du’s! Hättest du den Umschlag im Safe liegen lassen, wären jetzt alle Unterlagen darin verbrannt. Ein kleiner Trick, den man schon als Chemiestudent lernt. Man tränkt Löschpapier mit irgendeiner chemischen Lösung, und in Verbindung mit Luft geht es nach einer gewissen Zeit in Flammen auf.
Während dir die junge Dame aus La Rochelle ihr Märchen aufgetischt hat und du darauf eingegangen bist, ist sie in deinem Büro auf und ab gegangen und hat jede Kleinigkeit aufgenommen.
Du hast den Safe aufgemacht, und sie hat sich vorgebeugt und direkt hineingeschaut. Den Umschlag mit dem Taschentuch hat sie nicht gesehen.
Also steckte es mit großer Wahrscheinlichkeit noch in deiner Tasche. Dann musste sie dir eben noch eine kleine Komödie vorspielen, die des erschöpften Fräuleins, das ohnmächtig wird und sich an die Schultern ihres netten, fetten Retters klammert.«
»So fett bin ich nun auch wieder nicht«, protestiert Torrence.
»Trotzdem ist es ihr gelungen, und während sie in deine Arme gesunken ist, hat sie sich das Taschentuch zurückgeholt, und wenn dieses Untier von Barbet sie unglücklicherweise verliert …«
Er nimmt seinen Hut und Mantel.
»Ich gehe besser und kümmer mich selbst darum.«
»Wollen Sie mich dabeihaben, Chef?«, fragt der arme, eingeschüchterte Torrence mit der Haltung eines geprügelten Hundes.
Und doch wird er in der ganzen Welt als einer der größten Detektive angesehen.
II Wo eine Traubenschere zweckentfremdet wird und wo einem Rumpunsch eine unerwartete Bedeutung zukommt
Alle Gäste sind gegangen, einer nach dem anderen. Das Restaurant ist praktisch leer. Jetzt riecht es nur noch nach abgestandenen Küchendünsten, Wein und Kaffee.
Drüben in einer Ecke nahe der Tür hat Émile Barbet abgelöst, nachdem sie gemeinsam zu Mittag gegessen haben; gut gegessen sogar, denn es gab Schnecken, und Émile hat zwei Dutzend verspeist. Unglaublich, was sich Émile, so lang und dünn, wie er ist, alles einverleiben kann – selbst die reichhaltigsten Speisen, die am schwersten zu verdauen sind und vor denen sogar der stärkste Magen zurückschreckt.
»Geh zurück ins Büro«, sagt er zu Barbet. »Sag dem Chef, dass ich noch nicht weiß, wann ich zurück sein werde.«
Hat er zu viel gegessen? Oder ist ihm die halbe Flasche Bordeaux in den Kopf gestiegen? Um sicherzugehen, bestellt er einen schwarzen Kaffee. Aber natürlich muss er dessen Wirkung mit einem Glas vom besten Cognac des Hauses abmildern.
Auf der anderen Seite des Raums hat die junge Frau aus La Rochelle ein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche gezogen und sich eine ägyptische Zigarette angesteckt. Über die leeren Tische zwischen ihnen hinweg sehen sie sich an. Auf dem Fußboden liegt immer noch etwas Sägemehl. Die Kellnerin hat mit dem Saubermachen angefangen; sie fegt den Boden und wechselt die Tischdecken. Aber die beiden sitzen ihr immer noch im Weg, und es ist bereits drei Uhr nachmittags.
Als Émile angekommen ist, hat er gar nicht erst irgendwelche Tricks versucht. Er ist direkt auf Barbet zugegangen, der in seiner Ecke saß und versucht hat, sich hinter einer Zeitung zu verstecken.
»In Ordnung!«, hat er gesagt. »Wie ist sie hergekommen?«
»Mit dem Taxi. Leider!«, hat Barbet geseufzt, denn wenn sie mit der Metro oder dem Bus gefahren oder nur ein kleines Stück gelaufen wäre, hätte er leicht herausfinden können, was sie in ihrer Tasche hat.
Unter anderem Namen, der der Polizei bestens bekannt ist, war Barbet früher als berühmter Taschendieb tätig. Er hatte sogar eine Art Schule in der Nähe der Porte Clignancourt in Montmartre, wo er eine Puppe mit Glöckchen benutzt hat, die die Schüler filzen mussten, ohne sie zum Klingeln zu bringen.
Aber jetzt ist er anständig geworden. Warum? Nun, das geht niemanden außer Émile und ihn etwas an.
»Hat sie irgendwelche Telefongespräche geführt? Hat sie jemanden getroffen?«
»Nein. Sie ist nur einmal zur Toilette gegangen. Ich bin ihr bis zur Tür gefolgt. Aber anstandshalber musste ich ja draußen warten.«
Sie guckt zu den beiden rüber, und Émile ist sicher, dass sie ihn erkannt hat. Wenn man bedenkt, dass sie ihn im Büro in der Cité Bergère nur äußerst kurz gesehen hat, muss sie demnach heute Morgen in der Menge vor dem Juwelier gestanden haben.
Was soll’s! Mit manchen Leuten hat es einfach keinen Sinn, Versteck zu spielen.
»Du kannst gehen, Barbet.«
Jetzt sitzen sie und er allein im Restaurant, zwischen ihnen die gesamte Länge des Raums, und hin und wieder scheint es fast so, als lächelten sie sich an. So sehr, dass eine der Kellnerinnen, die allmählich ungeduldig wird, zu ihrer Kollegin sagt:
»Ich möchte gern mal wissen, warum die sich so anstellen. Sollen sie die Sache doch einfach anpacken, um Himmels willen! Früher oder später landen die eh zusammen im Hotel …«
Um zehn nach drei fragt Émile mit der Art von Schüchternheit, die er in der Öffentlichkeit fast immer an den Tag legt, und mit einer übertriebenen Höflichkeit, die gut zu seinem Aussehen passt:
»Ach, bitte, Mademoiselle, könnte ich vielleicht noch einen Cognac bekommen?«
Auf der anderen Seite des Raums ruft die junge, angeblich aus La Rochelle stammende Frau ihrerseits:
»Würden Sie mir bitte ein paar Trauben bringen? Und einen Rumpunsch!«
»Angezündet?«
»Natürlich angezündet.«
Sie bekommt ihre Trauben mit einer leicht gebogenen Traubenschere. Die Kellnerin entfacht ein Streichholz, um den Rum anzuzünden, der eine dunkle Schicht im Glas bildet.
Dann zieht die Unbekannte, nachdem sie Émile einen langen Blick zugeworfen hat, demonstrativ ein Taschentuch aus ihrer Handtasche, schneidet mit der Traubenschere eine Ecke ab und lässt das Stückchen Stoff in den brennenden Alkohol fallen.
»Was machen Sie denn da?«, platzt es aus der Kellnerin heraus.
»Nichts. Nur ein altes Hausrezept.«
Dabei lächelt sie Émile einladend an. Émile steht auf und durchquert das Restaurant.
»Darf ich?«, fragt er.
»Bitte sehr«, antwortet sie. »Mademoiselle! Bringen Sie das Glas von Monsieur an meinen Tisch …«
Und einen Moment später in der Küche grinst die Kellnerin über das ganze Gesicht.
»Was hab ich gesagt? Stellen sich dermaßen an! Und dann landen sie doch beieinander wie alle anderen auch. Jetzt aber mal los! Bloß raus hier! Sollen machen, was sie wollen, solange sie mir