Die letzte Analyse. Amanda Cross
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Читать онлайн книгу Die letzte Analyse - Amanda Cross страница 6
»Neun Uhr fünfzehn, genau genommen. Dann stürzen die Kinder und ich in die Küche, wo ich mein erstes Frühstück einnehme und die beiden ihr zweites. Da trödeln wir dann ziemlich vor uns hin, und ich mache gewöhnlich meine Einkaufs- und Besorgungslisten, rufe den Metzger an und manchmal meine Mutter und so weiter. Du weißt ja, wie so ein Vormittag verläuft.«
»Wann kommt Pandora?«
»Ach ja, Pandora ist dann schon da. Tut mir leid, ich vergesse immer etwas. Pandora kommt um neun. Normalerweise ist sie in der Küche, wenn ich mit den Jungen hereinkomme. Wenn die mir dann das meiste von meinem Frühstück wegprobiert haben, sie das Geschirr abgeräumt hat und so weiter, zieht Pandora die beiden an, und sie gehen nach draußen, es sei denn, es regnet. Es gibt da so eine Gruppe, mit der sich Pandora im Park trifft. Ich habe keine Ahnung, was das für Kinder sind, wie alt, welches Geschlecht und welche Nationalität, aber den Jungen scheint es zu gefallen, und Pandora ist natürlich ein guter Geist, den man unter Denkmalschutz stellen müsste, vor allem jetzt hat sie sich ja …«
»Es ist jetzt ungefähr zehn Uhr morgens, und die Kinder haben gerade mit Pandora das Haus verlassen.«
»Kurz nach zehn, genau genommen. Das ist jedenfalls die Regel. Dann fange ich an, mich anzuziehen und so weiter, weil ich spätestens um zwanzig vor elf aus dem Haus muss, um pünktlich zu meiner Analyse zu kommen, aber meistens gehe ich ein bisschen früher, um noch ein oder zwei Besorgungen auf dem Weg zu machen.« Auch Nicki machte eine Analyse, aber warum genau, hatte Kate nie feststellen können. Es hatte irgendetwas mit dem Verständnis für ihren Ehemann und mit der Anteilnahme an seinem Beruf zu tun, aber offenbar hatte Nicki auch ein großes Bedürfnis, eine Reihe bestimmter Probleme aufzuarbeiten; das wichtigste war wohl das, das Nicki als ihre »Angstattacken« bezeichnete. Kate hatte nie genau herausbekommen, was eine Angstattacke war, obwohl sie begriffen hatte, dass es etwas Schreckliches und sein Hauptcharakteristikum die Tatsache war, dass es gerade gar nichts gab, wovor man hätte Angst haben müssen. Soll heißen: nichts Rationales. Zum Beispiel, hatte Nicki erklärt, könnte ein Mensch eine Angstattacke in einem Fahrstuhl bekommen, er würde dann eine furchtbare Angst davor bekommen, dass der Fahrstuhl abstürzen könnte; aber auch wenn man ihm mit absoluter Sicherheit beweisen könnte, dass ein Absturz des Fahrstuhls gar nicht möglich wäre, und er selbst auch genau wissen mochte, dass er nicht abstürzen könnte, würde ihm das alles nicht gegen seine Angstattacke helfen. Kate hatte auch begriffen, dass das Opfer dieser Angstattacke sich nicht schon einmal in einem abstürzenden Fahrstuhl befunden haben oder jemanden kennen musste, dem das schon einmal passiert war, genauso wenig musste seine Angst überhaupt etwas mit Fahrstühlen zu tun haben. Nickis Angstattacken hatten nichts mit Fahrstühlen zu tun – eigentlich schade, schließlich wohnte sie doch im Parterre –, hingen aber offensichtlich mit öffentlichem Verkehr zusammen. Nicht zum ersten Mal ging Kate durch den Kopf, dass sie zwar zutiefst beeindruckt vom Genius Freuds war, das ineffektive Herumtasten, diese Mischung aus Verwirrung und Doktrin, die die klinische Psychoanalyse heute charakterisierte, sie jedoch absolut kalt ließen. Der Haken dabei war unter anderem, dass Freud, käme er heutzutage wieder auf die Erde zurück, noch immer der beste Psychiater von allen wäre. Einstein begriff, bevor er starb, nicht mehr, mit welchen Problemen sich die Physik beschäftigte, und so, dachte Kate, sollte es auch sein. Die Psychiatrie hatte mit Freud begonnen und schien weitgehend damit auch schon an ihrem Ende angekommen zu sein; aber vielleicht war es noch zu früh für solche Urteile.
»Ich bin gestern genau um halb elf aus dem Haus gegangen«, sagte Nicki.
»Währenddessen hatte Emanuel Patienten in seiner Praxis.«
»Ja. Zwischen dem Neun- und dem Zehn-Uhr-Patienten kam er nach hinten in die Wohnung, um mir guten Morgen zu wünschen und auf die Toilette zu gehen. Da war noch alles in Ordnung. Dann habe ich ihn nicht mehr gesehen bis …«
»Einen Augenblick, Nicki. Lass uns das ganz gründlich klären. Um halb elf war Emanuel mit einem Patienten in seiner Praxis (das war, nebenbei bemerkt, derjenige, den er auf den Nachmittag verlegen wollte – ob das hier eine Bedeutung hat? Ich frage mich, ob er das Mädchen kannte), Pandora war mit den Kindern ausgegangen, und du warst unterwegs zu deinem Termin um elf und einigen Besorgungen. Als du die Wohnung verließest, war also außer Emanuel und seinem Patienten niemand in der Wohnung, und die beiden waren in der Praxis?«
»Ja. Es klingt ein bisschen dramatisch, sicher, aber das ist haargenau die Wahrheit. Die Polizei schien sich für all das auch sehr zu interessieren.«
»Jeder, der den Haushalt beobachtet hätte, konnte also wissen, dass es so ablaufen würde, und zwar unvermeidlich, es sei denn, jemand wäre krank oder es regnete?«
»Ja. Aber wer hätte ein Interesse daran, unsere Wohnung zu beobachten? Siehst du, Kate, das ist der springende Punkt.«
»Nicki, bitte. Lass uns noch einen Augenblick bei dem zeitlichen Ablauf bleiben. Um elf musste dann das Mädchen, Janet Harrison, kommen, und der Patient vor ihr wäre schon weg. Du wärest bei deinem Analytiker, die Kinder und Pandora im Park, und für eine Stunde würde sich da auch nichts mehr ändern?«
»Für fünfzig Minuten jedenfalls. Du weißt, die Behandlungsstunde dauert fünfzig Minuten. Die Patienten gehen zehn Minuten vor der vollen Stunde, und die nächste Sitzung beginnt dann pünktlich. Aber du siehst das Problem, das die Polizei hat. Ich meine, man kann sich in ihre Sichtweise hineindenken, auch wenn man weiß, dass jemand wie Emanuel nicht hingeht und seine Patientin in seiner eigenen Praxis auf seiner eigenen Couch niedersticht. Die ganze Idee ist einfach verrückt. Er war da, oder zumindest glauben sie, dass er da war, obwohl er natürlich nicht da war, sie glauben also, er war da, in seiner schalldichten Praxis, zusammen mit einem Mädchen, sonst niemand in der Nähe, und er behauptet, jemand anders sei hereingekommen, habe sie auf der Couch erstochen, und er sei gar nicht da gewesen. Aus ihrer Sicht, nehme ich an, klingt das reichlich faul, gelinde ausgedrückt. Natürlich, Emanuel hat ihnen eindeutig erklärt, dass …«
»Warum ist der Raum übrigens schalldicht?«
»Wegen der inneren Ruhe, die ein Patient braucht. Wenn ein Patient draußen im Wartezimmer sitzt und irgendeinen Ton aus dem Behandlungszimmer hört, dann würde er doch den Schluss ziehen, dass man auch ihn hören könnte, und das hätte schlimme Auswirkungen, würde ihn blockieren. Also entschied Emanuel sich für Schallschutz – ich glaube, das tun die meisten Psychiater –, und dann hat er sich im Wartezimmer auf jeden nur möglichen Stuhl gesetzt, während ich drinnen auf der Couch lag und schrie, ich liebe meine Mutter und hasse meinen Vater, immer wieder, obwohl die Patienten natürlich nicht schreien und so etwas auch nie sagen würden, aber wir mussten sichergehen, und Emanuel hat wirklich nichts gehört.«
»Lass uns mal einen Zeitsprung machen, Nicki. Wir steigen wieder ein um zwölf Uhr, als du die Leiche fandest. Wieso du? Gehst du gewöhnlich in Emanuels Praxis?«
»Während des Tages eigentlich nie. Am Abend gehe ich hinein, staube ab und leere die Aschenbecher, weil Pandora dazu eigentlich keine Zeit hat, und im Sommer sitzen wir manchmal am Abend dort, bevor wir ausgehen, weil es der einzige Raum mit Klimaanlage im Haus ist. Aber tagsüber geht niemand auch nur in die Nähe. Wir bemühen uns sogar, nicht allzu oft hin und her zu laufen, wenn ein Patient im Wartezimmer sitzt, obwohl Emanuel sie daran gewöhnt hat, die Tür zum Flur hinter sich zu schließen, sodass sie uns im Grunde nie sehen könnten, außer, wenn sie gerade kommen oder gehen. Ich weiß, viele Psychiater mißbilligen es, wenn ein Analytiker seine Praxis im eigenen Haus hat, aber sie machen sich nicht klar, wie wenig die Patienten von dem bemerken, was um sie vor sich geht. Obwohl Emanuels Patienten wahrscheinlich annehmen, dass er verheiratet ist, hat mich erst einer in all den Jahren gesehen, und der hat mich wohl für eine andere Patientin gehalten. Von den Kindern hat, glaube ich, überhaupt noch niemand etwas bemerkt. Die Praxis ist für sie absolut verboten, und auch