Gesammelte Werke. Heinrich Mann
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Wolfgang Buck sah sich unruhig um. Seine Lippen schienen die Stimmung im Saal zu schmecken, sie verzogen sich, als äußerte sich die Stimmung in diesem merkwürdigen Geruch, der seit das Fenster geschlossen war, sich wieder gelagert hatte. Buck sah die Sympathien, die ihn hereinbegleitet hatten, zersprengt und abgestumpft, seine Kampfmittel unnütz verbraucht; und das Gähnen der vom Hunger in die Länge gezogenen Gesichter, die Ungeduld der Richter, die nach der Uhr schielten, verhieß ihm nichts Gutes. Er sprang auf; retten, was zu retten war! Und er machte seine Stimme energisch, um die Vorladung weiterer Zeugen für die Nachmittagssitzung zu beantragen. „Da der Herr Staatsanwalt es zum System erhebt, die Glaubwürdigkeit unserer Zeugen zu bezweifeln, sind wir bereit, den guten Leumund des Angeklagten zu beweisen durch die Aussagen der ersten Männer von Netzig. Kein Geringerer als Herr Bürgermeister Dr. Scheffelweis wird dem Gericht die bürgerlichen Verdienste des Angeklagten bezeugen. Der Herr Regierungspräsident von Wulckow wird nicht umhin können, ihm seine staatsfreundliche und kaisertreue Gesinnung zu bestätigen.“
„Nanu“, sagte dahinten aus dem freien Raum der dröhnende Baß. Buck strengte seine Stimme an.
„Für die sozialen Tugenden des Angeklagten aber werden seine sämtlichen Arbeiter eintreten.“
Und Buck setzte sich, hörbar keuchend. Jadassohn bemerkte kalt: „Der Herr Verteidiger beantragt eine Volksabstimmung.“ Die Richter berieten flüsternd; und Sprezius verkündete: das Gericht gebe nur dem Antrage des Verteidigers statt, der sich auf die Vernehmung des Bürgermeisters Dr. Scheffelweis beziehe. Da der Bürgermeister im Saal war, wurde er sogleich aufgerufen.
Er arbeitete sich aus seiner Bank heraus. Frau und Schwiegermutter hielten ihn von beiden Seiten fest und gaben ihm hastig Forderungen mit, die einander widersprechen mußten, denn der Bürgermeister langte sichtlich verstört am Richtertisch an. Welche Gesinnung der Angeklagte in der bürgerlichen Öffentlichkeit betätigte? Dr. Scheffelweis wußte Gutes darüber zu bekunden. So hatte der Angeklagte sich in den städtischen Kollegien eingesetzt für die Wiederherstellung des altberühmten Pfaffenhauses, wo die Haare aufbewahrt wurden, die bekanntlich Dr. Martin Luther dem Teufel aus dem Schwanz gerissen hatte. Freilich, auch den Saalbau der „Freien Gemeinde“ hatte er unterstützt und dadurch unleugbar viel Anstoß erregt. Im Geschäftsleben sodann genoß der Angeklagte die allgemeine Achtung; die sozialen Reformen, die er in seiner Fabrik eingeführt hatte, wurden vielfach bewundert, – wenn freilich auch dagegen eingewendet ward, daß sie die Ansprüche der Arbeiter ins ungemessene steigerten und so den Umsturz vielleicht doch zu befördern geeignet waren. „Würde der Herr Zeuge“, fragte der Verteidiger, „den Angeklagten des ihm zur Last gelegten Delikts für fähig halten?“ – „Einerseits“, erwiderte Scheffelweis, „gewiß nicht.“ – „Aber andererseits?“ fragte der Staatsanwalt. Der Zeuge erwiderte: „Andererseits gewiß.“
Nach dieser Antwort durfte der Bürgermeister sich zurückziehen; seine zwei Damen empfingen ihn, eine so unzufrieden wie die andere; und der Vorsitzende schickte sich an, die Sitzung aufzuheben, da räusperte Jadassohn sich. Er beantragte, nochmals den Zeugen Doktor Heßling zu vernehmen, der seine Aussage zu ergänzen wünsche. Sprezius klappte mißgelaunt mit den Lidern, das Publikum, [pg 244]das soeben aus den Bänken herausrutschte, murrte laut; – aber Diederich war schon vorgetreten, festen Schrittes, und hatte schon mit klarer Stimme zu sprechen begonnen. Nach reiflicher Überlegung sei er zu der Einsicht gelangt, daß er seine im Vorverhör gemachte Aussage vollinhaltlich aufrechterhalten könne; und er wiederholte sie, aber verschärft und erweitert. Er fing mit der Erschießung des Arbeiters an und gab die kritischen Bemerkungen der Herren Lauer und Heuteufel wieder. Die Zuhörer, die das Fortgehen vergessen hatten, verfolgten die Schlacht der Gesinnungen über die blutbetropfte Kaiser-Wilhelm-Straße bis in den Ratskeller, sahen die feindlichen Reihen sich bis zum Entscheidungskampf ordnen, Diederich wie mit geschwungenem Degen unter den gotischen Kronleuchter vorrücken und den Angeklagten herausfordern auf Leben und Tod.
„Denn, meine Herren Richter, ich leugne es nicht länger, ich habe ihn herausgefordert! Wird er das Wort sprechen, an dem ich ihn packen kann? Er sprach es und, meine Herren Richter, ich habe ihn gepackt und habe damit nur meine Pflicht erfüllt und würde sie auch heute wieder erfüllen, mögen mir daraus in gesellschaftlicher und geschäftlicher Beziehung selbst noch mehr Nachteile erwachsen, als ich in der letzten Zeit zu ertragen gehabt habe! Der uneigennützige Idealismus, meine Herren Richter, ist ein Vorrecht des Deutschen, er wird ihn unentwegt betätigen, mag ihm angesichts der Menge der Feinde gelegentlich auch der Mut sinken. Als ich vorhin mit meiner Aussage noch zögerte, war es nicht nur, wie der Untersuchungsrichter mir gütigst zubilligte, eine Verwirrung des Gedächtnisses: es war, ich gestehe es, ein vielleicht begreifliches Zurückweichen vor der Schwere des Kampfes, den ich auf mich nehmen sollte. Aber ich nehme ihn auf mich, [pg 245]denn kein Geringerer als Seine Majestät unser erhabener Kaiser verlangt es von mir ...“ Diederich sprach fließend weiter, mit einem Schwung in den Sätzen, der einem den Atem nahm. Jadassohn fand, daß der Zeuge anfange, die Wirkungen seines Plaidoyers vorwegzunehmen, und blickte unruhig auf den Vorsitzenden. Sprezius aber dachte offenbar nicht daran, Diederich zu unterbrechen. Mit unbewegtem Geierschnabel und ohne die Lider zu klappen, sah er auf Diederichs eiserne Miene, worin es drohend blitzte. Der alte Kühlemann sogar ließ die Lippe hängen und hörte zu. Wolfgang Buck aber: vorgebeugt auf seinem Stuhl, spähte er zu Diederich hinauf, gespannt, sachkundig und die Augen voll eines feindlichen Entzückens. Das war eine Volksrede! Ein Auftritt von bombensicherer Wirkung! Ein Schlager! „Mögen unsere Bürger“, rief Diederich, „endlich aus dem Schlummer erwachen, in dem sie sich so lange gewiegt haben, und nicht bloß dem Staat und seinen Organen die Bekämpfung der umwälzenden Elemente überlassen, sondern selbst mit Hand anlegen! Das ist Befehl Seiner Majestät und, meine Herren Richter, da sollte ich zögern? Der Umsturz erhebt das Haupt, eine Rotte von Menschen, nicht wert den Namen Deutsche zu tragen, wagt es, die geheiligte Person des Monarchen in den Staub zu ziehen ...“
Im minder guten Publikum lachte jemand. Sprezius hackte zu und drohte den Lacher in Strafe zu nehmen. Jadassohn seufzte. Jetzt war es Sprezius freilich nicht mehr möglich, den Zeugen zu unterbrechen.
In Netzig hatte der kaiserliche Kampfruf bisher leider nur zu wenig Widerhall gefunden! Hier verschloß man Augen und Ohren vor der Gefahr, man verharrte in den veralteten Anschauungen einer spießbürgerlichen Demo[pg 246]kratie und Humanität, die den vaterlandslosen Feinden der göttlichen Weltordnung den Weg ebneten. Eine forsche nationale Gesinnung, einen großzügigen Imperialismus begriff man hier noch nicht. „Die Aufgabe der modern gesinnten Männer ist es, auch Netzig dem neuen Geist zu erobern, im Sinne unseres herrlichen jungen Kaisers, der jeden Treugesinnten, er sei edel oder unfrei, zum Handlanger seines erhabenen Wollens bestellt hat!“ Und Diederich schloß: „Daher, meine Herren Richter, war ich berechtigt, dem Angeklagten, als er nörgeln wollte, mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten. Ich habe ohne persönlichen Groll gehandelt, um der Sache willen. Sachlich sein heißt deutsch sein! Und ich meinerseits“ – er blitzte zu Lauer hinüber – „bekenne mich zu meinen Handlungen, denn sie sind der Ausfluß eines tadellosen Lebenswandels, der auch im eigenen Hause auf Ehre hält und weder Lüge noch Sittenlosigkeit kennt!“
Große Bewegung im Saal. Diederich, hingerissen von der edlen Gesinnung, die er ausdrückte, berauscht durch