Die Rückkehr des Sherlock Holmes. Arthur Conan Doyle
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Читать онлайн книгу Die Rückkehr des Sherlock Holmes - Arthur Conan Doyle страница 12
Mein Freund hatte nichts gegessen. Es war eine seiner Eigenarten, in besonderen Momenten keine Nahrung zu sich zu nehmen, und ich habe Fälle mitgemacht, wo er sich auf seine eiserne Natur verließ, bis er vor Hunger ohnmächtig wurde. »Gegenwärtig habe ich keine Kraft zum Verdauen übrig,« pflegte er mir auf meine ärztlichen Vorhaltungen zu antworten. Es fiel mir daher nicht weiter auf, als er auch heute das Frühstück nicht anrührte und nüchtern mit mir nach Norwood aufbrach.
Um Deep Dene House waren noch eine Menge Neugieriger versammelt. Das Haus und seine Lage hatte ich mir ganz richtig vorgestellt. In der Türe kam uns Lestrade mit der Miene des Siegers entgegen.
»Nun, Herr Holmes, wer hat recht? Haben Sie Ihren Landstreicher schon?« rief er uns zu.
»Ich habe mir noch kein endgültiges Urteil gebildet,« erwiderte mein Freund.
»Aber wir haben uns gestern unseres schon gebildet und heute hat es sich als richtig erwiesen. Sie müssen also zugeben, daß wir Ihnen diesmal etwas voraus sind, Herr Holmes.«
»Sie tun so, als ob Sie etwas Besonderes gefunden hätten, als ob ein unerwartetes Moment eingetreten wäre,« sagte Holmes.
Lestrade lachte laut auf.
»Ich glaub’ Ihnen schon, daß Sie sich ebenso ungern schlagen lassen, wie die meisten von uns auch. Man kann jedoch nicht erwarten, daß man stets recht behält, nicht wahr, Herr Doktor? Kommen Sie mit mir, meine Herren, ich glaube, Sie jetzt von der Schuld des jungen Farlane definitiv überzeugen zu können.«
Er führte uns durch einen Gang in einen ziemlich dunklen Vorsaal.
»Hier muß Farlane nach Verübung des Verbrechens durchgekommen sein und seinen Hut geholt haben,« sagte er weiter. »Nun, sehen Sie hier.« Mit theatralischem Gebahren zündete er ein Streichholz an und zeigte uns einen Blutflecken an der weißgetünchten Wand. Als er das Streichholz näher hielt, sah ich, daß es kein bloßer Spritzer, sondern ein deutlicher Daumenabdruck war.
»Nehmen Sie mal die Lupe, Herr Holmes.«
»Jawohl, ich bin schon im Begriff.«
»Es ist Ihnen wohl bekannt, daß zwei Daumen niemals denselben Abdruck geben?«
»Ich habe schon davon gehört.«
»Dann vergleichen Sie ihn, bitte, mit diesem Wachsabdruck hier, den ich heute morgen vom Daumen des jungen Farlane habe nehmen lassen.«
Als er den Wachsabdruck neben den Blutflecken hielt, bedurfte es keines Vergrößerungsglases, um zweifellos zu erkennen, daß beide von demselben Daumen herrührten. Ich sah ein, daß unser unglücklicher Klient verloren war.
»Das ist das Schlußglied der Beweiskette,« sagte Lestrade.
»Ja, das ist das Schlußglied,« wiederholte ich mechanisch.
»Das ist die Entscheidung,« sagte Holmes.
In seiner Stimme fiel mir etwas auf. Ich drehte mich um und sah ihn an. Sein Ausdruck war vollständig verändert. Er verriet innere Freude. Die Augen glänzten wie Sterne. Mir schien es, als ob er gewaltsam das Lachen unterdrücken müßte.
»Herr des Himmels!« rief er endlich aus. »Wer hätte so was gedacht? Wie einen das Aussehen eines Menschen doch täuschen kann, wahrhaftig! Allem Anschein nach war er so ‘n netter Mann! Es wird eine Lehre für uns sein, unserem eigenen Urteil nicht allzusehr zu vertrauen, nicht wahr Lestrade?«
»Allerdings, Herr Holmes; es gibt Leute, die ein bißchen zu selbstbewußt, von der Richtigkeit ihrer Auffassung zu sehr eingenommen sind,« antwortete Lestrade. »Der trat so unverfroren und scheinheilig auf, daß man’s ihm wirklich nicht zugetraut hätte.«
»Und wie fürsorglich er gehandelt hat, indem er seinen rechten Daumen an die Wand drückte, als er den Hut vom Haken nahm! Und wie natürlich das außerdem ist, wenn man genauer darüber nachdenkt!« Holmes war äußerlich ruhig, während er so sprach, aber einem genauen Kenner wie mir konnte die unterdrückte Erregung nicht verborgen bleiben. »Uebrigens, Herr Lestrade, wer hat denn diese großartige Entdeckung eigentlich gemacht?«
»Die Haushälterin hat den Polizisten, der die Nachtwache hatte, darauf aufmerksam gemacht.«
»Wo befand er sich während der Nacht?«
»Er wachte im Schlafzimmer, wo das Verbrechen begangen worden ist, und paßte auf, daß alles unberührt liegen blieb.«
»Aber warum ist dieses Zeichen nicht schon gestern bemerkt worden?«
»Weil wir keinen besonderen Grund hatten, dieses Vorzimmer eingehender zu untersuchen. Außerdem ist es an keiner auffallenden Stelle, wie Sie sehen.«
»Nein, nein, allerdings nicht. Und es besteht vermutlich doch kein Zweifel, daß es gestern schon dort war?«
Lestrade sah Holmes an, als ob er ihn für nicht ganz zurechnungsfähig hielt. Ich muß gestehen, daß ich selbst über seinen guten Mut und über seine Bemerkungen erstaunt war.
»Es scheint mir beinahe, als ob Sie glaubten, daß Farlane im Dunkel der Nacht aus dem Gefängnis hierher geeilt sei, um sich selbst zu bezichtigen,« antwortete Lestrade nach einiger Zeit auf Holmes’ merkwürdige Frage. »Ich überlasse jedem Sachverständigen die Entscheidung, ob das sein Daumenabdruck ist oder nicht.«
»Zweifelsohne ist es sein Daumenabdruck.«
»Nun, das genügt mir,« sagte Lestrade. »Ich bin kein Theoretiker, Herr Holmes, ich bin ein Praktiker, und wenn ich die Beweismittel habe, ziehe ich meine Schlüsse daraus. Sollten Sie mir später noch etwas mitzuteilen haben, so finden Sie mich im Empfangszimmer; ich will dort meinen Bericht niederschreiben.«
Holmes hatte seinen seelischen Gleichmut wiedergefunden, aber ich sah ihm an, daß er doch noch gutgelaunt war.
»In der Tat, die Sache hat eine sehr schlimme Wendung genommen, nicht wahr, Watson?« sagte er zu mir, als wir allein waren. »Und doch gibt es einzelne Punkte, von denen noch Hoffnungsstrahlen für unseren Klienten ausgehen.«
»Das freut mich ungemein,« antwortete ich von Herzensgrunde. »Ich fürchtete, es sei ganz aus mit ihm.«
»Das möchte ich noch nicht sagen, mein lieber Watson, denn Lestrades Beweis hat tatsächlich eine Lücke, die für unseren Freund von größter Wichtigkeit ist.«
»Wirklich, Holmes?! Die wäre?«
»Das ist der Umstand, daß ich weiß, daß dieser Flecken noch nicht dort war, als ich gestern diesen Vorraum untersuchte – komm Watson, wir wollen jetzt einen kleinen Spaziergang draußen in der Sonne machen.«
Ich begleitete ihn. Im Kopfe war ich ziemlich wirr, aber im Herzen hatte ich neue Hoffnung. Wir gingen im Garten umher. Holmes nahm das Haus von allen Seiten genau in Augenschein und zeigte ein auffallendes Interesse an der Bauart. Dann ging er hinein und untersuchte das ganze Gebäude vom Grund bis zum Dach. Die meisten Räume waren unmöbliert, aber Holmes besah sie sich doch. Endlich auf dem obersten Treppenflur, auf den drei unbenutzte