Gesammelte Werke von Cicero. Марк Туллий Цицерон
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Von der Freundschaft hingegen haben Alle insgesammt die nämliche Ansicht. Sowol die, welche sich dem Staate gewidmet haben, als die, welche an der Erforschung der Dinge und an der Gelehrsamkeit ihre Freude finden, wie auch die, welche, von Amtsgeschäften frei, ihre eigenen Geschäfte treiben 161, endlich die, welche sich ganz den Vergnügungen hingeben, urtheilen, ohne Freundschaft sei das Leben kein Leben, wenn sie nur einigermaßen mit Anstand leben wollten. 87. Es erstreckt sich nämlich unvermerkt, ich weiß nicht wie, die Freundschaft über Aller Leben und läßt keine Lebensweise ihrer untheilhaft sein. Ja, besäße auch Jemand ein so abstoßendes Wesen und eine solche Gefühllosigkeit, daß er den Umgang der Menschen flöhe und haßte, wie wir von einem gewissen Timon 162 zu Athen vernommen haben; so konnte er es doch nicht unterlassen nach einem Menschen zu suchen, vor dem er das Gift seiner Bitterkeit ausgeiferte. Die Wahrheit dieser Behauptung würde man am Besten begreifen, wenn der Fall möglich wäre, daß uns ein Gott aus diesem Menschengewühle entrückte und in irgend eine Einöde versetzte und uns hier einen Ueberfluß und Reichthum an allen Naturbedürfnissen darreichte, aber die Gelegenheit einen Menschen zu sehen uns gänzlich entzöge 163. Wer wäre so eisenhart, daß er ein solches Leben ertragen könnte, und daß ihm nicht die Einsamkeit den Genuß aller Vergnügungen entreißen sollte?
88. Wahr ist also jener Ausspruch, den, wie ich glaube, der Tarentiner Archytas 164 im Munde zu führen pflegte, und den ich von unseren Greisen hörte, die ihn wieder von anderen Greisen gehört hatten: »Wäre auch Einer in den Himmel gestiegen und betrachtete die Einrichtung des Weltalls und die Schönheit der Gestirne; so würde die Bewunderung dieser Dinge doch reizlos für ihn sein, die hingegen ihm höchst erfreulich gewesen wäre, wenn er nur irgend eine Seele gehabt hätte, der er seine Beobachtungen hätte mittheilen können«.
So liebt die Natur nichts Einsames und lehnt sich immer gleichsam an eine Stütze an, die gerade in dem liebreichsten Gemüthe die süßeste ist.
XXIV. Aber wiewol ebendieselbe Natur durch so viele Zeichen kund gibt, was sie will, sucht und begehrt; so sind wir doch auf eine unbegreifliche Weise taub dagegen und hören nicht auf ihre Mahnungen. Allerdings ist der gegenseitige Verkehr unter Freunden mannigfach und vielfältig, und es werden viele Veranlassungen zu Mißtrauen und zu Anstoß gegeben; diese jedoch theils zu vermeiden theils zu ertragen ist Pflicht des Weisen. Aber eine Art des Anstoßes müssen wir uns gefallen lassen 165, wenn der Nutzen 166 und die Ehrlichkeit in der Freundschaft erhalten werden soll. Man muß nämlich seine Freunde oft warnen und tadeln, und dieß muß freundlich aufgenommen werden, wenn es aus wohlmeinenden. Herzen geschieht.
89. Aber leider ist nur zu wahr, was mein Freund 167 in seinem Mädchen von Andros sagt:
Willfährigkeit gebiert uns Freunde, Wahrheit Haß.
Lästig ist freilich die Wahrheit, wenn anders aus ihr Haß entsteht, der ein Gift der Freundschaft ist; aber Willfährigkeit ist ungleich lästiger, weil sie durch Nachsicht gegen die Vergehungen den Freund in's Verderben stürzen läßt. Die größte Schuld trägt aber der, welcher die Wahrheit verschmäht und sich durch Willfährigkeit zur Selbsttäuschung verleiten läßt. Bei dieser ganzen Sache muß man daher Rücksicht und Sorgfalt anwenden, erstlich, daß die Erinnerung ohne Bitterkeit, sodann, daß der Tadel ohne Beschimpfung sei; der Willfährigkeit aber 168 – weil ich mich gern eines Terenzischen Ausdruckes bediene – stehe die Begleiterin der Tugenden, Freundlichkeit, zur Seite 169; Liebedienerei hingegen, die Gehülfin der Laster, werde in weiter Ferne gehalten, sie, die nicht nur keines Freundes, sondern überhaupt keines freien Mannes würdig ist. Denn anders lebt man mit einem Gewaltherrscher, anders mit einem Freunde.
90. Wer aber seine Ohren gegen die Stimme der Wahrheit so verschließt, daß er vom Freunde die Wahrheit nicht hören kann, an dessen Rettung muß man verzweifeln. Treffend ist jener Ausspruch des Cato, sowie Vieles von ihm: »Besser machen sich um Manche bittere Feinde verdient als die Freunde, welche süß erscheinen; denn jene sagen die Wahrheit oft, diese niemals«. Uebrigens ist es ungereimt, wenn die, welche erinnert werden, das Mißbehagen, das sie empfinden sollten, nicht empfinden, das hingegen empfinden, von dem sie frei sein sollten. Denn daß sie gefehlt haben, darüber fühlen sie sich nicht beunruhigt; daß sie aber getadelt werden, darüber empfinden sie Mißbehagen, während sie sich doch im Gegentheile über ihr Vergehen betrüben und über die Zurechtweisung freuen sollten.
XXV. 91. Wie es also der wahren Freundschaft eigen ist zu erinnern und sich erinnern zu lassen, und zwar das Eine mit edler Freimüthigkeit zu thun und nicht mit verletzender Härte, das Andere mit Geduld anzunehmen und nicht mit Widerstreben; ebenso muß man wissen, daß es kein größeres Verderben in der Freundschaft gibt als Kriecherei, Schmeichelei und Liebedienerei. Denn mit möglichst vielen Namen muß man dieses Laster gesinnungsloser und betrügerischer Menschen bezeichnen, die Alles mit Rücksicht auf das Vergnügen 170, Nichts der Wahrheit gemäß reden.
S. zu Kap. 21, §. 80.; wie wäre dieß möglich, wenn nicht einmal in einem Einzigen das Gemüth immer ein und dasselbe bliebe, sondern wechselnd, veränderlich und vielfältig wäre? 93. Denn was kann so biegsam sein, so sich von der geraden Straße entfernen als das Gemüth eines Menschen, der sich nicht nur nach des Andern Sinne und Willen, sondern sogar nach seiner Miene und seinem Winke richtet?
Sagt Jemand Nein, so sag' ich Nein; sagt Jemand Ja, so sag' ich Ja;
Kurz dieß gebot mir, in Allem beizustimmen,
wie derselbe Terentius 171 sagt, doch in Gnatho's Rolle, dergleichen Freunde zu wählen durchaus Leichtfertigkeit verräth. 94. Leider gibt es viele Ebenbilder des Gnatho, die an Herkunft, Lebensverhältnissen und Ruf höher stehen. Die Schmeichelei solcher Menschen ist um so widerwärtiger, wenn zu ihrer Gehaltlosigkeit auch wol das Uebergewicht ihrer Stellung hinzutritt.
95. Der schmeichelnde Freund kann aber bei gehöriger Sorgfalt ebenso gut vom wahren gesondert und unterschieden werden als alles Geschminkte und Erheuchelte vom Aechten und Wahren. Eine Volksversammlung, die aus den unerfahrensten Leuten besteht, weiß doch gewöhnlich zu beurtheilen, welcher Unterschied zwischen einem sogenannten Volksfreunde, das heißt, einem nach dem Munde redenden und leichtfertigen Bürger, und zwischen einem nach festen Grundsätzen handelnden Volksfreunde, das heißt, einem wahrhaftigen und gediegenen Bürger 172 stattfinde. 96. Welch schmeichelnde Worte entströmten neulich dem Munde des Gajus Papirius 173, durch die er den Weg zu den Ohren der Volksversammlung