Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim  Ringelnatz

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nahezu bewegt die Hand. Ich war ganz gefaßt und in vieler Beziehung sogar froh. Aber das liebe Eichhörnchen weinte tagelang, und auch die Rentmeisterin war ehrlich betrübt.

      Die treue Seele schrieb, ich wäre ihr in München herzlich willkommen.

      Schwärmerische, liebeswarme Zusammenkünfte und Ausflüge mit Timmi. Fast niemand genoß wohl den herrlichen Park, den Garten und alles dort so wie wir. Mit wem sonst konnten wir darüber reden? Wenn uns beiden das Herz davon voll war, erinnerte der Rentmeister plötzlich an die zu bestellende Wringmaschine, oder die Rentmeisterin kam auf das Huhn zu sprechen, das auf den Baum geflogen war.

      In meiner derzeitigen Stimmung machte mir das Buch »Braut von Rörvig« von Bergsöe großen Eindruck. Ich hatte so etwas wie Sehnsucht nach Seefahrt. Nachts weinte ich an Eichhörnchens Brust, und derweilen rußte wieder die Lampe, und alles, alles war auf einmal schwarz punktiert. Eichhörnchen wischte weinend.

      Im Salon erzählte Timmi sehr lustig, wie sie einmal eine Weste mit einem Regenschirm geflickt und dann den Regenschirm wieder mit der Weste geflickt hatte. Ich wartete sehr auf Geld vom »März«, weil ich mir nicht sicher war, ob mir der Graf zu Weihnachten ein Geldgeschenk machen würde. Timmi wollte Weihnachten bei ihrer Mutter verleben. Sie hatte der Gräfin einen Wunschzettel eingereicht, den ich in einen Vers kleiden mußte. Sie wünschte sich Geld, aber dieser Wunsch wurde ihr abgeschlagen.

      Kalte, verschleierte Mondnächte. Am 19. Dezember schrieb ich oder wollte ich an eine versteckte Wand in meinem Zimmer schreiben:

      Hier wohnte ich und dachte dem nach,

      Was ich gesehen, was jeder sprach.

      Mein Auge strahlte, mein Auge ward naß

      Und wurde wohl blind in zielwirrem Haß.

      Der Graf stöberte in meinem Zimmer herum unter dem Vorwand, Bücher zu holen. In Wirklichkeit interessierte er sich offenbar sehr für meine Novelle »Das Grau und das Rot«. Er fragte mich gelegentlich, nachdem er mir ein paar ungewöhnlich freie Witzchen erzählt hatte: »Sie haben doch eine Novelle geschrieben und bei Rentmeisters vorgelesen? Sie sind mit Rentmeisters ziemlich intim? Auch mit Fräulein Timm? Sie duzen sich?«

      Die letzten Abende mit dem Grafen verliefen sehr nervös. Auch wenn die Gräfin dabei war, die sich ja immer nur vornehm ihrem Mann anpaßte oder schwieg. Ich hatte noch viel Arbeit mit Luther-Erstausgaben der 1520 er Jahre, die dem Grafen billig aus Rouen angeboten waren. Mit Eichhörnchen zusammen führte ich noch eine längst geplante Bescherung für Tietzefreund aus. Wir bauten blitzschnell ein Tischleindeckdich für den rührenden Alten auf.

      Ich sagte dem Grafen, daß ich gern am nächsten Montag abreisen würde. Es schien mir dabei fast so, als habe er die Kündigung längst bereut und als hätte er gewünscht, daß ich stillschweigend weiter dort bliebe. Er kam auch jetzt gleich auf Shakespeare zu sprechen.

      Ich hatte in Breslau für Eichhörnchen ein Medaillon aus Gold herstellen lassen, ein einfaches Herz, das nur die Worte »Schloßtage 1912« und ein Geheimzeichen enthielt. Wir packten unsere Sachen, waren beide sehr nervös. Ich sandte Kisten mit Büchern voraus an Seele und kaufte auch noch Enten, Hasen, Fasanen.

      Meine Erzählung »Der tätowierte Apion« war endlich im »März« erschienen. Der Graf war von der Novelle derart begeistert, daß er einen ganzen Stoß von dieser »März«-Nummer kaufte und verschenkte. Er las die Erzählung seiner Frau und Fräulein Moll und aller Welt vor.

      Die Frage, ob mir der Graf eine Gratifikation schenken würde, wurde immer aktueller. Denn der »März« sandte das Honorar nicht, und ich hatte kein Geld zur Abreise. Der Rentmeister meinte, einer Andeutung entnommen zu haben, daß mir der Graf eine Pelzmütze schenken würde. Ich verfluchte diese Pelzmütze im voraus. Ich wollte sie auf die Zeus-Büste von Otricoli stülpen. Aber nun traf das »März«-Honorar doch ein. Hurra!

      Ich gab mir Mühe, meine Arbeiten für den Grafen noch recht anständig zu erledigen. Am 22. Dezember 1912 fuhren Eichhörnchen und ich ab, Eichhörnchen in Urlaub zu ihrer Mutter und ich nach München. Eichhörnchen wollte vom Urlaub aus kündigen. Wir hatten es so eingerichtet, daß wir bis Forst zusammen fuhren. Die uns von der gräflichen Familie mitgegebenen Pakete, die wir erst zu Weihnachten öffnen sollten, rissen wir im Coupé sofort auseinander und tauschten lachend die Gaben aus, die sie enthielten. Bismarcks Erinnerungen, ein Etui, ein Kragenbeutel, Gebäck.

      Die Trennung in Forst war innig-traurig.

      Ich besuchte nun zunächst meinen Bruder in Döbern und dankte von dort aus dem Grafen für die Geschenke und alles mir erwiesene Gute. Auch an Rentmeisters schrieb ich. Sie antworteten mir, der Graf hätte sich intensiv nach etwaigen Schulden erkundigt, die ich hinterlassen hätte und die er gar zu gern bezahlt hätte.

      Der Rote Münchhausen

       Inhaltsverzeichnis

      Ich trat am 1. Januar 1913 wieder in Stellung. Bei dem Freiherrn Börries von Münchhausen, Dr. jur., auf Apelern und Windischleuba, Herzoglich Altenburger Kammerherr, Hannover.

      In der Landschaftsstraße Nummer 2 wohnte dieser liebenswürdige und bedächtige Herr mit seiner Frau, einer Hausdame und Dienstmädchen. Ich sollte gegen freie Station seine Kunst- und Büchersammlungen ordnen. Die waren zwar nicht annähernd von dem Ausmaß und dem Wert wie die in Klein-Oels, aber originell. Alte und neue Literatur, Bilder, Münzen, schmiedeeiserne Sachen und Kruzifixe in allen Größen.

      Auch in dem Zimmer, das man mir zum Bewohnen gab, hingen Kruzifixe, und sie machten das Zimmer nicht heller. Ich war nun freilich von Klein-Oels her verwöhnt. Hier war in meiner Fensterscheibe ein Loch, das einen kalten Zug hereinließ. Ich machte das Zimmermädchen darauf aufmerksam. Daraufhin erschien sie am nächsten Tage verlegen, um das Loch mit Papier zu verkleben. Man hatte eine Holzplatte über zwei Böcke gelegt. Das war mein Tisch.

      Der Baron und die Baronin empfingen mich mit einer Freundlichkeit, hinter der ich bald eine ehrliche Herzlichkeit erkannte. Sie erzählten mir, daß sie meine Bewerbungsbriefe zuvor graphologisch untersucht hätten. Wir nahmen die Mahlzeiten gemeinsam ein, wobei auch die langjährige, fürsorgliche Hausdame und sozusagen Adjutantin des Barons zugegen war. Die Unterhaltung entfaltete sich lebhaft und natürlich. Die Baronin war eine liebe, gebildete Dame. Sie sammelte Spitzen. Der Baron interessierte sich trotz seiner vorgerückten Jahre auch für moderne Literatur. Sein Sohn war der bekannte Balladendichter gleichen Namens. Wenn auch meine Ansichten in manchem von denen des Kammerherrn abwichen, so blieb das doch ohne Belang für die Harmonie zwischen uns.

      Den Roten Münchhausen nannten ihn seine Standesgenossen, nicht wegen seiner politischen Gesinnung – er war Welfe –, sondern seiner Haare wegen. Außer dem Hause in der Landschaftsstraße besaß er noch Güter in Apelern und Windischleuba.

      Zwischen und in den arg verstaubten Büchern – ich mußte niesen, wenn ich sie herauszog – fand ich zu meinem Erstaunen einen abscheulichen Mist von Makulatur, Briefen, leeren Kuverts, Reklameschriften usw. usw. Z.B. auch zahllose Etiketts von Selterwasserflaschen. Sie pflegte der Baron im Wirtshaus abzulösen und mitzunehmen. »Man kann alles eventuell noch einmal gebrauchen«, sagte er. Ich aber warf den ganzen Dreck ins Feuer.

      Als ich mich in meinem Zimmer, so gut es ging, eingerichtet hatte, schickte der Kammerherr das Mädchen zu mir, ob ich noch irgendeinen Wunsch hätte. Ich bat um einen Papierkorb. Nach einiger Zeit kam das Mädchen zurück und reichte mir, wieder verlegen, ein seltsames Kunstwerk. Der Baron hatte aus Pappe eine Tüte

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