Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz

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Gesammelte Werke (Über 800 Titel in einem Band) - Joachim  Ringelnatz

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die faulen Äpfel nicht umkommen lassen wollte, aß er immer nur faule Äpfel. Er hatte eine spaßige, krankhafte Sucht, nichts umkommen zu lassen, alles aufzubewahren. Die Apfelkerne, die Zigarrenasche, die verbrauchten Zündhölzer wurden in großen Kupferkübeln gesammelt. Da trat ich denn ziemlich revolutionär auf.

      Ich ließ mich nicht davon abbringen, mittags in Schwarz zu erscheinen. Von einem Geflügel blieb dort nichts übrig als ein meisterhaftes anatomisches Präparat. Von jeher hatte ich eine Vorliebe für Soße. Wenn aber der Kammerherr sagte: »Mein lieber, junger Freund, tunken Sie doch die Soße mit Brot auf, sie ist ja das Beste«, dann lehnte ich das entschieden ab. »Ich würde mir nie erlauben, an Ihrer Tafel, Herr Kammerherr, die Soße aufzuwischen.« Solchen Oppositionskampf führte ich aber in heiterer und, ich glaube, auch nicht in respektloser Weise. Der Baron nahm ihn mit weisem Humor auf. Es schien eine erfreuliche Privatsonne über seinem Hause.

      Gewöhnlich besuchte er mich abends auf meinem Zimmer, besprach dann die bibliothekarischen Angelegenheiten, plauderte über dies und jenes oder las mir begeistert Gedichte seines Sohnes vor, wobei seine Blicke immerzu fragten: Ist das nicht schön?

      Um mir Geld zu verschaffen, schrieb ich aufs Geratewohl Reklamegedichte über alle möglichen Fabrikate, die ich unaufgefordert an die betreffenden Firmen sandte. Ich schrieb über Persil; als Dank sandte mir die Firma eine Kiste Waschpulver zu, mit dem ich gar nichts anfangen konnte. Ich schrieb über eine bestimmte Automarke und wartete mit einem Schimmer von Hoffnung darauf, daß eines Tages ein geschenktes Kabriolett anrollen würde. Statt dessen erhielt ich einen Autostraßen-Atlas.

      Eine Sektfirma sandte mir für ein Gedicht eine Präsentkiste mit sechs Flaschen Sekt, die mir für meinen armen Pegasus eine hochwillkommene Anfeuerung bedeutete. Als der Baron mich zur Abendstunde besuchte, blieb er fast erschrocken in der Tür stehen, da er mich vor einer Flasche Sekt sitzen sah. Ich stellte mich, als ob ich sein Erstaunen gar nicht bemerkte: »Guten Abend, Herr Kammerherr.«

      »Haben Sie Geburtstag?«

      »Nein. – Hier habe ich ein höchst interessantes Buch – –«

      »Ja, was ist denn das??« Der Baron zeigte auf den Sekt.

      »Sehr interessantes Buch. Sehen Sie, hier, Herr Kammerherr, im Avantpropos – –«

      »Sie trinken Champagner?«

      »Das Zeug schmeckt nicht recht«, sagte ich blasiert, »wenn ich aber Herrn Kammerherrn ein Glas anbieten –«

      Er wehrte ab.

      Einmal morgens sah ich ihn aufgeregt vorm Spiegel stehen und seinen Anzug ordnen. Er trug seinen Staatsfrack mit dem Kammerherrnschlüssel am rechten Rockschoß und um den Hals einen Orden mit leuchtendem Band. Ich war grausam genug, das völlig zu übersehen und gar nichts zu fragen. Bis er von selbst erzählte, warum er so offiziell gekleidet war. Er hatte im Namen des Herzogs einen Kranz am Grabe eines verstorbenen Adligen niederzulegen.

      Ich ließ mich für ein paar Wochen beurlauben, weil mein Vater schwer erkrankt war. Ich fand Papa im Bett liegend, mager, blaß und elend. Meine Mutter und meine Schwester, die ihn seit Tagen pflegten, hatten ihn bereits aufgegeben und waren selbst durch die aufreibenden Tag- und Nachtwachen ganz apathisch geworden. Vater erkannte mich für kurze Zeit. Ich beugte mich nieder, um ihn zu küssen, aber er winkte mir ab mit einer Gebärde des Ekels vor sich selbst, weil er unrasiert war. Dann verfiel er wieder in Fieberträume und redete unaufhörlich verworren vor sich hin.

      So wachte ich oft an seinem Lager und lauschte seinen verschlungenen Phantasien. Mitunter sprach ich selber sanft und langsam etwas hinzu, was der Kranke auch manchmal auffing und in seinen Reden weiterspann. »Glaubst du an Gott?« fragte ich einmal.

      »Ach, das ist ja alles dummes Zeug«, sagte er. Aber so, wie er das sagte, klangen seine Worte durchaus nicht überzeugt, sondern nur rührend hilflos. Dann ging er gleich auf anderes über, und von Zeit zu Zeit klang der gutmeinende Oppositionsgeist heraus, den er gerade mir gegenüber so oft gezeigt hatte.

      Einmal zeichnete ich meinen Vater, da er schlief. Eine kleine Skizze, die ich selber liebgewann.

      Ich bat den langjährigen Arzt und Freund meiner Eltern, den Doktor Riemer, um offene Meinung. Er sagte, das Schlimme wäre, daß der Patient jede Nahrung verweigere und sogar den stärkenden Wein sei nes geliebten und verehrten Freundes Johannes Trojan zurückweise. Wenn man ihn dazu bringen könnte, wieder Speise und Trank anzunehmen, würde er sich vielleicht noch einmal erholen.

      Als ich wieder allein am Krankenlager saß und Vater gerade einen lichten Moment hatte, schenkte ich ein Glas von Trojans Wein ein und sagte: »Willst du den? Ich glaube, der taugt nichts, der ist von Johannes Trojan.«

      »Trojan? – – Trojan! Oh, der ist ein Weinkenner!« flüsterte Vater lächelnd, griff nach dem Glas und trank etwas. Dann ging ich auf die Straße und grub unter dem schmutzigen Stadtschnee eine Handvoll sauberen Schnees heraus. Den hielt ich meinem Vater an die Lippen, und er bewegte diese Lippen und schlürfte von dem Schnee. Von da an war er wieder zum Essen zu bewegen.

      Ich mußte abreisen. Aber Mutter, Ottilie und die Freunde brachten Vater mit aufopferungsvoller Pflege und Liebe wieder zur Genesung.

      Während meines Urlaubs war die Frau des Barons von Münchhausen gestorben. Dadurch war die Situation in trauriger Weise so verändert, daß ich nun auch nicht mehr lange bei dem Baron blieb, sondern sein Haus am 1. April 1913 verließ. Er gab mir beim Scheiden ein vornehmes Geldgeschenk und, was noch rührender war: Er hatte in stundenlanger Arbeit die verschlungenen Initialen meines Namens nach eigenem Entwurf säuberlich gezeichnet und aufgemalt, als Dedikation für mich.

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