Märchen für Kinder. Hans Christian Andersen
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„Quivit, quivit!“ ertönte es in demselben Augenblicke über ihrem Kopfe. Sie blickte auf, es war die Schwalbe, die gerade vorüberflog. Sobald sie Däumelieschen gewahrte, wurde sie sehr froh, sie erzählte derselben, wie ungern sie den garstigen Maulwurf zum Manne nähme und daß sie nun tief unter der Erde wohnen sollte, wo das Sonnenlicht nie hineinschiene.
„Nun kommt der kalte Winter,“ sagte die Schwalbe, „ich fliege nach den warmen Ländern fort. Willst du mich begleiten? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Fliege nur mit mir, du süßes kleines Däumelieschen, die du mir das Leben gerettet hast, als ich erfroren in dem finstern Schooße der Erde lag!“
„Ja, ich ziehe mit dir,“ sagte Däumelieschen, und setzte sich auf des Vogels Rücken, mit den Füßen auf seine ausgebreiteten Flügel, band ihren Gürtel an einer der stärksten Federn fest,
Endlich kamen sie nach den warmen Ländern. Dort schien die Sonne weit heller als hier, der Himmel war doppelt so hoch und an den Gräben und Hecken wuchsen die herrlichsten grünen und blauen Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen; Myrthen und Krausemünzen erfüllten alles mit ihrem Duft. Aber die Schwalbe flog immer noch weiter und es wurde schöner und schöner. Unter den prachtvollsten grünen Bäumen an dem blauen See stand seit alten Zeiten ein weißes Marmorschloß. Weinreben rankten sich um hohe Säulen; an der äußersten Spitze waren viele Schwalbennester und in einem derselben wohnte die Schwalbe, welche Däumelieschen trug.
„Hier ist mein Haus!“ sagte die Schwalbe. „Suche dir aber selbst eine der prächtigsten Blumen aus, die da unten wachsen, und ich will dich dann hinaufsetzen, und dein Los wird so glücklich sein, als du nur irgend wünschen kannst!“
„O wie herrlich!“ sagte Däumelieschen und klatschte in die kleinen Händchen.
Da lag eine große, weiße Marmorsäule, welche zur Erde gesunken und in drei Stücke zerborsten war, zwischen ihnen aber wuchsen die schönsten großen weißen Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelieschen hinunter und setzte sie auf eines der breiten Blätter. Aber wer malt ihr Erstaunen: mitten in der Blume saß ein kleiner Mann, so weiß und durchsichtig, wie wenn er von Glas wäre. Die niedlichste goldene Krone hatte er auf dem Kopfe und die prächtigsten hellen Flügel auf den Schultern. Er selbst war nicht größer als Däumelieschen. Es war der Engel der Blumen. In jeder Blume wohnte so ein kleiner Mann oder eine Frau, dieser aber war der König über alle.
Der kleine Prinz erschrak gewaltig vor der Schwalbe, denn gegen ihn, der so klein und fein war, schien sie ein wahrer Riesenvogel zu sein. Als er aber Däumelieschen gewahrte, ward er gar froh, war sie doch das allerschönste Mädchen, das er bis jetzt gesehen hatte. Deshalb nahm er die Goldkrone von seinem Haupte und setzte sie ihr auf, fragte, wie sie hieße und ob sie seine Gemahlin sein wollte, dann sollte sie Königin über alle Blumen werden.
Däumelieschen gab dem schönen Prinzen das Jawort, und von jeder Blume kam eine Dame, oder ein Herr, so allerliebst, daß es eine Lust war. Jedes brachte Däumelieschen ein Geschenk, aber das beste von allen waren ein Paar schöne Flügel von einer großen weißen Fliege. Sie wurden Däumelieschen am Rücken befestigt und nun konnte auch sie von Blume zu Blume fliegen. Überall herrschte darüber Freude und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang ihnen etwas vor, so gut sie vermochte, aber im Herzen war sie gleichwohl betrübt, denn sie hatte Däumelieschen gar lieb und würde sich nie von ihr getrennt haben.
„Du sollst fortan nicht mehr Däumelieschen heißen!“ sagte der Engel der Blumen zu ihr, „das ist ein häßlicher Name und du bist so schön. Wir wollen dich Maja nennen!“
„Lebewohl, lebewohl!“ sagte die Schwalbe, und zog wieder fort aus den warmen Ländern, weit fort nach unserem kalten Himmelsstriche. Dort hatte sie ein kleines Nest oben an dem Fenster, wo der Mann wohnt, der Märchen erzählen kann. Dem sang sie ihr „Quivit, quivit,“ vor. Davon haben wir die ganze Geschichte.
Die Störche.
Auf dem letzten Hause eines kleinen Dörfchens befand sich ein Storchnest. Die Storchmutter saß im Neste bei ihren vier Jungen, welche den Kopf mit dem kleinen schwarzen Schnabel, denn er war noch nicht rot geworden, hervorstreckten. Ein Stückchen davon stand auf der Dachfirste starr und steif der Storchvater. Man hätte meinen können, er wäre aus Holz gedrechselt, so stille stand er. „Gewiß sieht es recht vornehm aus, daß meine Frau eine Schildwache bei dem Neste hat!“ dachte er. Und er stand unermüdlich auf einem Beine.
Unten auf der Straße spielte eine Schar Kinder und als sie die Störche erblickten, sang einer der dreistesten Knaben und allmählich alle zusammen einen Vers aus einem alten Storchliede, so gut sie sich dessen erinnern konnten:
Störchlein, Störchlein, fliege,
Damit ich dich nicht kriege,
Deine Frau, die liegt im Neste dein
Bei deinen lieben Kindelein:
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt,
Das dritte wird verbrannt,
Das vierte dir entwandt!
„Höre nur, was die Jungen singen!“ sagten die kleinen Storchkinder. „Sie sagen, wir sollen gebraten und verbrannt werden!“
„Daraus braucht ihr euch nichts zu machen!“ sagte die Storchmutter.
Aber die Knaben wiederholten es immer von Neuem und wiesen mit Fingern nach dem Storche. Nur ein Knabe, Peter mit Namen, sagte, es wäre eine Sünde und Schande, sich über die Tiere lustig zu machen, und nahm an ihrem Unfug nicht Teil. Die Storchmutter tröstete ihre Kinder: „Kümmert euch nicht darum!“ sagte sie; „seht nur, wie ruhig und unbekümmert euer Vater dasteht, und zwar auf einem Beine!“
„Uns ist so bange!“ sagten die Jungen und zogen ihre Köpfe in das Nest zurück.
Das eine wird gepfählt,
Das andere wird abgekehlt! —
„Werden wir wohl gepfählt und verbrannt?“ fragten die Storchkinder.
„Nein, sicher nicht!“ erwiderte die Mutter. „Ihr sollt fliegen lernen; ich werde euch schon einüben! Dann geht es hinaus auf die Wiese und auf Besuch zu den Fröschen. Das wird eine Lust werden!“
„Und was dann?“ fragten die Storchkinder.
„Dann versammeln sich alle Störche, die hier im Lande wohnen und darauf beginnt die große Herbstübung. Da muß man gut fliegen, das ist von großer Wichtigkeit, denn wer nicht fliegen kann, wird von dem General mit seinem Schnabel totgestochen. Lernt deshalb nur fliegen, wenn der Unterricht beginnt!“
„Dann werden wir aber doch gepfählt, wie die Knaben behaupteten, und höre nur, jetzt sagen