Geheimnis Fussball. Christoph Bausenwein
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Die Perfektionierung der „Fallsucht“ in betrügerischer Absicht ist die neueste Variante der „coolen“ – oder skrupellosen – Spielweise, die sich seit den 1970er Jahren im Profifußball durchsetzte. Man foulte immer weniger aus der Hitze des Kampfes heraus oder mit offenem Visier, sondern immer mehr aus kühler Berechnung. Das hatte zwar eine Verringerung der Brutalität zur Folge, zugleich aber bedeutete es auch eine Veränderung des Spielverständnisses. Nun hieß es: Wer zu brutal tritt, dem fehlt die Cleverness. Als „professionell“ hingegen ist seitdem dasjenige Foulspiel akzeptiert, das zwei Dinge vermeidet: den Platzverweis für den Foulenden und die Verletzung des Gefoulten. Vernünftige Profis rechnen damit, dass die Gegner genauso wie sie selbst notfalls auch mit unerlaubten Mitteln zum Erfolg kommen wollen; sie wollen sich aber zugleich darauf verlassen, dass schwere Verletzungsfolgen nicht vorsätzlich in Kauf genommen werden. Fouls, die sie zu Sportinvaliden machen, akzeptieren sie nicht – denn dies wäre eine eklatante Verletzung der Profisolidarität, die sich aus ihrer Eigenschaft als „Unterhaltungsarbeiter“ ergibt. Ein Beispiel für ein klassisch-professionelles Foul gab Michael Ballack im Halbfinale der WM 2002 gegen Südkorea. Mit einem taktischen Foul vereitelte er eine Chance des Gegners und sicherte so seinem Team den Einzug ins Finale. An dem konnte er dann selbst nicht mehr teilnehmen, weil er durch die zweite gelbe Karte, die er sich damit eingehandelt hatte, gesperrt war.
Das weit verbreitetste Foul ist inzwischen – entwickelt als Folge des Grätschen-Verbots der FIFA vom Jahr 1994 – das Halten und Zerren an Hemd und Hose. „Früher kam die Grätsche“, schrieb der „Kicker“, „gnadenlos. Auch von hinten. Ist heute nicht mehr erlaubt. Deshalb haben sich die Herren Bundesliga-Profis etwas anderes einfallen lassen: Grapschen statt grätschen. In jedem Spiel werden die Trikots auf ihre Festigkeit geprüft.“ Zugleich geht das Zerren am Trikot einher mit dem bereits attestierten Hang zu Simulation: An jedem Bundesliga-Wochenende fallen die Stürmer bei der kleinsten Berührung so theatralisch, als habe sie gerade die Faust des amtierenden Box-Weltmeisters getroffen.
Seit einiger Zeit ist der Griff nach dem Trikot wieder seltener zu sehen. Die Verteidiger sind nicht zahmer, aber die Textilien sind inzwischen hauteng geworden. So bleibt kaum eine Chance mehr, einen Zipfel von des Gegners Wäsche zu erhaschen, und die Abwehrspezialisten erledigen ihre Arbeit wieder mehr mit den Füßen. Vorsichtig zu Werke gehen müssen sie trotzdem, da oft schon der Hauch einer Berührung genügt, um einen Pfiff des Schiedsrichters auszulösen.
Zweifelsohne ist nach wie vor ein Grundgehalt von Gewalt mit im Spiel, doch über weite Strecken spielt sie nur noch zum Schein ein Rolle. Aus dem Kampfspiel droht daher ein Simulationsspiel zu werden, in dem das Foul, das gar keines ist, zum zentralen Moment einer psychologischen Kriegführung wird. Heute sind nicht mehr die Stürmer die armen Schweine, weil sie so viel gefoult werden, sondern die Gelackmeierten sind die Verteidiger, die für Fouls bestraft werden, die sie gar nicht begangen haben.
So ist zusammenzufassen: Paradoxerweise hat gerade die Angst vor dem unfairen Spiel zu einer Erweiterung des Spielraums für Betrügereien geführt. Erst die permanente Ausweitung des Strafauftrags und der Strafgewalt der Schiedsrichter, erst die härtere Ahndung des Foulspiels, erst die Gefahr, dass der Elfmeterpfiff flott erfolgt, erst das Risiko, dass gelbe, gelb-rote und rote Karten schnell gezückt werden, provoziert die Versuchung, einen Vorteil zu Lasten des Gegners herauszuschinden. Es könnte daher durchaus sein, dass der Fußball zu der Zeit, als die Spieler einander noch hart und ehrlich bekämpften, im Grunde fairer war als heutzutage.
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