Menschen unter Zwang. Clara Viebig
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„Meinetwegen kann sie kommen. Soll ich dir den Brief mal vorlesen?“
„Wozu?“
„Sie schreibt so geheimnisvoll: sie müsste in einer über ihr Wohl und Wehe entscheidenden Angelegenheit deinen Rat einholen.“
„Meinen Rat?“ Er zog fast verlegen die Schultern. „Ich habe gar kein Interesse für ihre Angelegenheiten; wahrscheinlich wieder irgendeine ihrer Liebesgeschichten, mit der sie mich behelligen will.“
Doris Mittler lächelte befriedigt: grossen Anteil an der Schwägerin nahm William wirklich nicht! Dann redete sie ihm zu: „Du kannst sie nicht gut abweisen, Willi, sie ist doch die Schwester deiner verstorbenen Frau!“
„Meinetwegen, dann lass sie kommen. Aber das sage ich dir, ich kann mich nicht um sie kümmern, ich habe keine Zeit. Gar keine.“
„Zeit — du hast keine Zeit?!“ Sie lachte unwillkürlich.
Er fuhr unwillig auf: „Habe ich auch nicht. Ich habe Kopfweh!“ In einer schmerzhaften Regung fasste er sich nach der Stirn; dieser Griff war seiner Hand schon eine gewohnte Bewegung. „Immer Kopfweh!“
„Oh, oh“, machte sie bedauernd. Und sie streichelte ihm Stirn und Wange.
Er hielt still, liess sich streicheln und schloss die Augen dabei; die Berührung ihrer Hand tat ihm wohl. „Es wird mir doch noch einmal so gehen wie meinem Vater“, seufzte er. „Immer dieses Kopfweh. Eines Tages werden sie mich auch ins Irrenhaus bringen.“
„Aber William!“ Sie wurde förmlich böse. „Was sind das für strafbar törichte Gedanken! Nimm dich doch zusammen, lass dich nicht so gehen!“
Er stöhnte auf, nahm ihre beiden Hände und legte sein Gesicht hinein.
Sie sah auf ihn nieder. Ihre Stimme wurde weicher, ihre Augen schimmerten feucht: „Armer Mann, wie quälst du dich!“ Heute war es wieder ganz schlimm mit ihm, er hatte seinen melancholischen Tag, da durfte man ihn nicht schelten, sonst wurde er böse, und es gab eine Szene. So klagte sie denn nur: „Du hast mich doch gar nicht lieb! Sonst würdest du so etwas nicht sagen, du tust mir ja weh damit. Du hast doch auch gar keinen Grund, so zu reden.“
„Keinen Grund —?“ Er hob das Gesicht aus ihren Händen und sah sie verstört an. „Wenn dein Vater — ach, vielleicht hat auch schon dein Grossvater und dein Urgrossvater zu viel gesoffen —, wenn dein Vater so getrunken hätte, dass er das Delirium bekam, bei lebendigem Leibe schon tot war, würdest du dann nicht auch Grund genug haben, um dich zu fürchten? Grund genug, wahrhaftig! Und dazu diese Kopfschmerzen, immer elende Kopfschmerzen. Nicht zum Ertragen“, schrie er aufgeregt, schleuderte ihre Hände von sich und rannte durchs Zimmer.
Sie wartete still, bis seine Schritte sich verlangsamten, bis sein unruhiges Hin und Her ganz aufhörte, bis er am Fenster stand und durch die geschlossene Scheibe hinausstarrte.
Es war Frühling, man hörte, dass laut die Vögel sangen. Gezirp, Gezwitscher von vielen, dazwischen ein süsses, warmtönendes Flötenlied. Unten vorm Fenster, mitten auf dem Rasenplatz, den hochstämmige Rosenstöcke im ersten Trieb einrahmten, ein vollerblühtes rundes Bäumchen; es stand wie ein holdes Wunder in seinem rosa Kleid. Und weiterhin noch andere Bäume, die blühen wollten. Und das Grün so grün, und erste Blumen so bunt, und über der des Frühlings sich freuenden Erde der Himmel, so licht und so blau. Und er sah es nicht. Ach, der Arme, dem das alles gehörte, und der doch nichts davon hatte! Doris Mittler warf einen zornigen Blick hinauf zur Zimmerdecke: gerade oben darüber sass sie in ihrem Zimmer, die Alte! Hätte sie es doch für sich behalten, ihm nicht erzählt, was einstmals war! Freilich, was wusste die, was Nerven waren! Leise trat sie hinter den am Fenster Stehenden und legte den Arm um seine Schultern: „Musste sie dir’s erzählen?“
„Warum denn nicht?“ Es klang gereizt. „Nun weiss ich doch, was mit uns Längnicks los ist. Wenn ich doch nur etwas zu arbeiten hätte! Bei der Arbeit vergisst man. Aber ich habe keine — unintelligent, träge.“ Seine Stimme sank, wurde fast tonlos: „Essen, trinken, schlafen — man sollte mich totschlagen.“
Sie war erschrocken, seine Stimme erschütterte sie. Er machte sich Vorwürfe über sein müssiges Leben — war es denn nicht auch schrecklich, so dahinzuleben?! „So nimm dir doch etwas vor“, bat sie herzlich. „Könntest du nicht vielleicht den Inspektor abschaffen?“
Er schüttelte verneinend.
„Dann doch wenigstens den Vogt. Du hast viel zu viel Leute; was läuft hier alles herum. Güldenaue ist nicht gross, eigentlich nur ein Luxusgut. Du könntest es ganz gut allein schaffen. Es würde dir so viel Freude machen, über die Felder zu gehen. Du könntest ja auch reiten.“ Sie klinkte das Fenster auf, stiess die Flügel weit zurück und atmete tief: „Ah, es ist schön, wunderschön, wenn in der Frühe die Lerchen singen! Oder wenn am Abend die Sonne in Korn und Wiesen versinkt. Versucht’s doch mal, ob es dir nicht möglich wäre, dich selbst etwas mehr zu kümmern. Ich könnte dich gut dabei unterstützen, Willi, die Bücher führen, die Löhne auszahlen, die —“
„Ach was, ach was“, unterbrach er sie heftig. „Alles Unsinn. Ich werde Güldenaue verkaufen und nach der Stadt ziehen. Nach Breslau, nach Dresden, vielleicht nach Berlin. In der Stadt ist immer was los, man hat Zerstreuung.“
„Und Lore?“ fragte sie vorwurfsvoll. Um Gottes willen, nur nicht in die Stadt ziehen, dachte sie. Sie hatte noch genug davon, wie er aus Berlin zurückgekommen war im vorigen Winter — vollständig ausgeplündert, geistig und körperlich. Es hatte lange gedauert, bis er sich erholt hatte. Gut, dass sie Lore zum Vorwand nehmen konnte! Und war es denn nicht auch so, hatte der Arzt nicht gesagt, dass für Lore Landluft das Zuträglichste sei? Ihre Mutter war genau so rosig gewesen, niemand hätte gedacht, dass diese blühende junge Frau einer Grippe so wenig standhalten könnte. Hohes Fieber, wenige Tage nur, dann war’s aus gewesen; das Herz zu schwach, es versagte plötzlich. Vielleicht war Lores Herz auch nicht stark. „Willi, denk an Lore! Ach, in die Stadt eingesperrt, was soll da aus dem armen Kind werden?!“
„Ach so, ja, Lore.“ Es klang enttäuscht. Aber doch war William Längnick im Grunde froh, dass aus seiner plötzlich aufgetauchten Idee, Güldenaue zu verkaufen, nicht Wirklichkeit werden konnte. Ach, alles, was er in Angriff nehmen wollte, zerfloss eben in nichts! Er hatte weder in den Händen noch in den Gedanken die Kraft, etwas festzuhalten, geschweige denn auszuführen. Die Grossmutter würde es ja auch gar nicht erlaubt haben. „Ich bin krank“, seufzte er.
Ja, das war er! Sie sah ihn besorgt an: was war es für eine Krankheit? Doktor Schmieder konnte sie ihr nicht nennen. Ach, war es die Krankheit des Degenerierten? Geschlechter wachsen nicht aufwärts, sie wachsen niederwärts; wie bei den Fürsten so bei den Bauern. Und doch hätte Doris Mittler ihn geheiratet, nicht nur seines Reichtums wegen — als seine Witwe würde sie in bester Lebenslage zurückbleiben —, sie hatte ihn auch wirklich lieb, trotz seiner Schwächen. War er nicht wie ein Knabe, der sich an sie schmiegte, wenn ihm ganz bange war? Und geheiratet um Lores willen. Sie fühlte es wohl, man wollte ihr dieses Kind, das sie gehütet, seitdem es seine Mutter verloren hatte, entwinden. Oh, die, die da oben! Unwillkürlich stellte sie sich fester auf ihre Füsse. Aber musste diese Alte, dieses ‚Gespenst von Güldenaue‘, wie das Dienstpersonal sie nannte, denn ewig leben? ‚Des Menschen Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, so sind es achtzig Jahre‘ — diesen Psalm hatte Lore erst kürzlich gelernt —, die Urgrossmutter war ja nun schon weit über achtzig Jahre! Das gab Beruhigung. Wer weiss auch, ob William sich nicht doch noch mit ihr trauen liess? Dann hätte sie alle Rechte. Doris drückte sich enger an