Menschen unter Zwang. Clara Viebig

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Menschen unter Zwang - Clara Viebig

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Schnee erstickte sie, hatte gleichsam alles Leben begraben. So war es schon seit Tagen. Und es schneite noch immer. Sehnsüchtig dachte Lore: wenn ich doch jetzt Britta hätte, um mit ihr draussen Schneeballen zu machen! Der grosse Weiher im Park war auch noch zugefroren, man könnte ihn kehren lassen und Schlittschuh laufen. Man könnte auch eine Schlittenfahrt machen, die Post holen mit den Ponys — ach, was könnte man alles, wenn man nicht so allein wäre! Fräulein Mittler war seit acht Tagen fort, der Vater war im Sanatorium bei Berlin, er hatte sie nachkommen lassen, weil er sich nicht gut fühlte, er wollte nicht allein sein. Ach, die arme Doris, sie hatte geweint, als sie so plötzlich fort musste, und sie selber hatte auch geweint. Es war zu traurig, kein Abendstündchen mehr, an dem sie mit Doris dem Sausen des Windes horchte, der um die Schlossmauern strich. Es hörte sich behaglich an, wenn man zu zweien war, aber jetzt so allein — schrecklich. Es nutzte nichts, dass man sich dann ins Bett verkroch bis über die Ohren, man hörte ihn doch. Am Tage war er still, aber sowie es Nacht wurde, fing er mit seinem Heulen an. Er klagte und winselte, er rutschte den Schornstein herunter, er raschelte hinter den Tapeten, er drückte gegen alle Türen; man musste die zuschliessen, damit sie nicht aufsprangen. Er fegte über den langen und breiten Gang, der leer war und hoch, weil er durch zwei Stockwerke ging bis hinauf, wo die Dienstmädchen und die Mamsell schliefen, wo Vorratskammern waren und die Nähstube. Er schlich sich von da wieder die Treppe hinunter bis in die Diele mit den Hirschgeweihen, den vielerlei Gehörnen und ausgestopften Vögeln, die die Urma von dem früheren Besitzer mitgekauft hatte. Lore dachte daran, wie sehr sie sich als Kind vor dem Kauz mit den grossen Augen und vor dem Habicht, der die Flügel spreizt und den Schnabel aufreisst, gefürchtet hatte; am meisten aber vor der Wildkatze, die auf einem Brettchen über der Tür zum grossen Saal stand, ein armes Häschen unter den Krallen. Ach, das eklige Raubtier! Sie hatte immer noch eine gewisse Scheu.

      Ach, es war sehr schön, auf dem Lande zu leben, schön die Felder, der Wald und die fernen Berge, aber im Winter müsste man Menschen um sich haben, Menschen sehen, Menschen sprechen, sich an Menschen anschmiegen können! Seit den acht Tagen, die Doris fort war, hatte Lore niemals mehr lachen können. Wenn jetzt Britta hier wäre, würde das ganz anders sein. Sie dachte mit Sehnsucht an die ihr Versprochene, und diese Sehnsucht wurde heute fast schmerzlich, trieb ihr Tränen in die Augen. Sie konnte die Kreuzstiche auf dem Kanevas nicht mehr sehen, die blauen, grünen und roten Fäden wurden ein buntes Wirrwarr. Lore liess die Arbeit in den Schoss sinken und träumte verloren ins Leere.

      Wie Britta jetzt wohl aussah? Im Familienalbum steckte nur ein Kinderbildchen — ein kleines untersetztes Ding mit dummen Augen — ‚Brigitte Bade, vier Jahre alt‘ stand darunter. Dem glich die nun nicht mehr. Lore malte sich das Bild der Ersehnten aus. Tante Ingeborg hatte gesagt ‚lange nicht so hübsch wie du‘ — aber Britta war gewiss viel hübscher, sie glich ihrer Mutter. Aber nur äusserlich; innerlich war sie ganz anders. ‚Ein komisches Kind‘, sagte die Tante — nun ja, dass die eine Tochter komisch fand, die so ganz, ganz anders war als sie selber, das wollte sie wohl glauben. Lieb, klug, verträglich, von Herzen gut! Lores Phantasie schmückte Brigitte Bade mit all den inneren und äusseren Vorzügen aus, die einen Menschen schön und liebenswert machen.

      Die Schlossherrin beobachtete die träumende Urenkelin. Sie selber sass nicht im Lehnstuhl und nicht am Ofen, wie es bei solchem Winterwetter das gute Recht ihres Alters gewesen wäre, sie sass auf einem der hohen Lederstühle, wie sie auch um den Esstisch standen, und hatte die Zeitung vor sich. Sie waren beide allein im Zimmer, die Uralte und die ganz Junge. Friederike Längnick hatte die Zeitung sinken lassen, sie blickte interessiert: dass Lore hübsch war, das hatte sie längst bemerkt, heute aber sah sie es recht, wahrhaftig, die hatte ja Ähnlichkeit mit ihrer Grossmutter, der Engländerin, der Frau von ihrem Paul! Verdammt, wurde sie denn die Erinnerung an dieses Geschöpf, das ihr nur zum Unheil ins Haus geschneit war, noch immer nicht los? Wurde die noch einmal in Lore lebendig?! Sie schluckte trocken, alter Hass war ihr in die Kehle gestiegen; nicht mehr so brennend wie damals, als Paul, jenes Mädchens wegen, sie, seine Mutter, hintangesetzt hatte, aber noch immer bitter genug.

      „Sitz nicht so faul da“, schrie sie die Verträumte an, „stier nicht ein Loch in die Luft! Was denkst du?“

      Lore war erschreckt aufgefahren, das Gesicht der Greisin starrte sie verfinstert an. Aber es war auch voll einer so grossen Traurigkeit, dass Lore dachte: ach, es muss doch gar nicht schön sein, alt zu sein! Dann kennt man gar nicht mehr eine rechte Freude. Dann kann man nicht alles mehr so geniessen, wie man es geniesst, wenn man jung ist. Man kann sich nicht nach Veilchen bücken im Frühling, nicht ein luftiges Kleid tragen im Sommer, immer schwarz muss man gehen, schwarz bis unters schrumplige Kinn; man kann nicht all das essen, was gut schmeckt, man hat keine Zähne und keine Haare mehr, man schläft nicht mehr die ganze Nacht durch bis zum Morgen, man hustet, man hustet. Und die man am liebsten gehabt hat, die sind tot. Man hat keine schönen Träume für die Zukunft, denn man hat keine Zukunft mehr! Es durchschauerte Lore förmlich, als sie das dachte. Arme Urma! Der Blick, mit dem sie in das alte, in seinen Furchen versteinte Antlitz sah, spiegelte plötzliches Mitleid. ‚Was denkst du?‘ — diese harte Stimme schreckte sie nicht mehr und auch nicht die finstere Miene, sie lächelte mutig in das alte Gesicht: „Ich träumte. Man kann doch nicht bloss sticken, immer mit der Nadel rein in den Stramin und dann wieder raus, man denkt doch auch dabei. Ich wenigstens will dabei denken. Man kann es ja auch gar nicht ändern, dass man’s tut.“

      „Nein, das kann man auch nicht“, sagte Friederike Längnick langsam und nickte. „Man denkt, man denkt.“ Komisch, dass dieses junge Ding auch schon dachte! „Na, und was dachtest du denn?“ Es klang freundlicher.

      „Ich dachte an Britta. Ich weiss auch, warum sie nicht kommt. Und dann dachte ich“ — Lore stockte plötzlich: das konnte sie doch nicht sagen, dass sie gedacht hatte, wie traurig es ist, alt zu sein. „Ich weiss nicht mehr, was ich sonst noch dachte.“ Es klang verlegen.

      „Du weisst es!“ Die schwarzen Augen forschten in dem tief erröteten jungen Gesicht. „Du willst es nur nicht sagen. Aber ich weiss es, du hast gedacht: wäre doch die Alte, die mir selten was erlaubt, die mir Essig in alle Freude giesst, wäre die Urgrossmutter, die alte Hexe, doch nicht mehr da!“

      „O Urma, wie kannst du so etwas sagen!“ Das junge Mädchen sprang auf und streckte die Arme abwehrend aus: „Das habe ich nicht gedacht, so etwas kann ich ja gar nicht denken!“ Ihr offenes Gesicht zeigte ehrliche Entrüstung. „Ich bin doch kein Fremder. Ich weiss doch, dass du zu mir gehörst und ich zu dir. Nein, ich habe gedacht —“ sie errötete noch tiefer, es stieg ihr wie eine Flamme zu Kopf, aber sie musste es ja sagen, offen eingestehen, sonst glaubte die arme Urma wirklich — „ich habe darüber nachgedacht, wie traurig es ist, alt zu sein, so alt wie du!“

      Traurig, traurig? Ja, war das denn wirklich so traurig? Friederike Längnick runzelte die Stirn: war es denn traurig, wenn man noch solch frisches Blut vor sich sah? Traurig war alles, was gewesen war; traurig war es mit Paul, ihrem Einzigen, gewesen, traurig auch mit Pauls Sohn, dem ‚Schlummerkopp‘. Aber traurig nicht mit diesem jungen Ding. „Komm mal her“, sagte sie.

      Lore folgte. Nicht zögernd, sie fühlte, die Urma war ihr nicht böse.

      „Näher“, sagte Friederike Längnick.

      Lore kniete auf der Fussbank nieder, die vor der alten Frau stand.

      Die Urgrossmutter fasste sie unter das Kinn und sah starr in das zu ihr emporgehobene reine Gesicht. Die Lider über den blauen Augen schlossen sich nicht, die zwinkerten auch nicht, ruhig hielten die den Blick aus. Eine Längnick, und doch keine Längnick! Paul war nicht in diesem schönen Gesicht, und auch nichts von William und nicht viel von der eigenen Mutter. Es waren auch nur äusserlich die Züge der Grossmutter, die feine Nase, der liebliche Mund der vermaledeiten Engländerin — woher stammte die Entschlossenheit in diesem Blick, der Mut, mit dem dieses Kind ihren scharfen Blick, den alle anderen scheuten, ertrug? Von wem hatte sie das? Ha, von ihr, von ihr! Das hatte sie von ihr, von ihr, von Friederike Längnick! Friederike

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