Menschen unter Zwang. Clara Viebig

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Menschen unter Zwang - Clara Viebig

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weil die Bar, der Tanz, der Sekt ihr zu entgleiten drohten — zu der Ansicht gekommen, dass man den Vorschlag der alten Längnick annehmen sollte. Erstens war es sehr gesund für das Mädchen, in Landluft zu kommen; die Stadt hier war zwar nicht gross, Gärten genug, auch Felder und Wiesen, aber es war doch immerhin Stadtluft. Und Brigitte war blutarm, sie würde dort rötere Backen bekommen und guten Appetit. Zweitens war eine Aussteuer oder ein Kapital von fünfzehntausend Mark für ein junges Mädchen durchaus nicht von der Hand zu weisen; Britta war nicht hübsch, vielleicht verschaffte ihr das dann einen Mann. Und drittens, und das war das Schwerwiegendste, war der junge Stiefvater nicht das richtige. Bei Theo ging es, da hatte es weiter keine Bedenken, aber bei Britta, bei Britta?! Er verwöhnte sie viel zu sehr. Er ging ja mit diesem dummen unreifen Ding um wie mit einer bereits Erwachsenen! Die Mutter fühlte, abgesehen von einer unklaren Eifersucht, dass es die Tochter in ihren Gefühlen verwirren musste, wenn Tom den Arm um sie legte, so mit ihr umschlungen im Zimmer auf und ab spazierte oder draussen im Gärtchen. Zog er sie beim Morgen- oder Abendkuss nicht näher als nötig an sich? War es nicht unpassend, dass er in ihrem Stübchen aus und ein ging, als wäre gar nichts weiter dabei?

      Auch jetzt fand die Frau ihren Mann da. Britta lag schon, er sass auf ihrem Bettrand und neigte sich über sie. Mit leiser Stimme redete er auf sie ein. Was erzählte er denn dem Kind? Hoffentlich etwas für sein Alter Passendes! Ingeborg fühlte plötzlich eine unklare Besorgnis; sie kam den beiden recht ungelegen, das merkte sie. Der Mann drehte den Kopf nach ihr mit einem Ausdruck wie: was willst du hier? Und Britta sagte: „Ach du“, und warf den Kopf so hastig herum nach der Wand, dass ihre langen glatten Haarstränen wie dunkle Schlangen auf dem weissen Kissen lagen.

      „Wir haben zu Nacht gebetet“, sagte der Stiefvater, „nun gehe ich noch zu Theo. Gute Nacht, meine Maus!“ Er beugte sich tief herunter, die Mutter sah, wie das Mädchen sich seinem Kusse entgegenhob. Sie ärgerte sich über Britta, sie ärgerte sich über Tom. „Geh nur, geh! Geh zu Theo, ich habe noch mit Brigitte zu sprechen.“

      „Hoffentlich verdirbst du ihr die gute Stimmung nicht“, sagte er, „ich bitte dich darum“, und ging.

      Die Mutter setzte sich, wo er gesessen hatte, auf den Rand des schmalen Bettes, unter dessen dünner Decke man deutlich den Körper fühlte. Nein, das war unpassend, dass er sich so ungeniert hier auf den Bettrand setzte! „Hör mal, Brigitte“, sagte sie — aber sie sagte es nicht sehr sanft, in ihrer Stimme vibrierte noch der Ärger —, „das passt mir gar nicht hier mit dir! Heute ist ein Brief gekommen aus Güldenaue von der alten Tante, du bist zu Lore eingeladen. Ein glänzendes Anerbieten. Du wirst es so gut da haben, wie du es hier niemals haben kannst. Nun, was sagst du dazu?“

      „Auf wie lange?“ fragte das Mädchen.

      „Nun, so lange, bis ihr beiden Mädchen erwachsen seid, und Lore sich verheiratet. Lore ist sehr lieb, ein reizendes Geschöpf!“

      „Nein, ich gehe nicht!“ Britta steckte den Kopf, wie ein Huhn den seinen unter den Flügel, unter ihren schützenden Arm.

      „Warum nicht?“ Aha, das hatte sie ja kommen sehen, die wollte nicht fort von hier, seinetwegen! Röte des Unwillens stieg der Frau zum Kopf: ärgerlich genug, dass Tom mit der kleinen Lisbeth, dem Zweitmädchen, die nur zwei Jahre älter war als Britta, angebändelt hatte, da hatte sie ein Auge, nein, zwei Augen zugedrückt — bei einem Dienstmädchen kommt’s nicht weiter darauf an — aber bei Britta?! Sie war plötzlich ganz Tugend. Heftig fuhr sie die Tochter an: „Du wirst nach Güldenaue gehen. Anfang der kommenden Woche schon!“

      „Ich habe lauter zerrissene Hemden und Strümpfe“, sagte das Mädchen trotzig, „so reise ich nicht.“

      „Du hast schon ein hübsches, ganz neues Kleid für das Frühjahr; ein Jäckchen dazu und einen neuen Hut, das genügt vorderhand. Das andere wird dir nachgeschickt werden.“

      „Ich will nicht, ich will aber nicht“, weinte das Mädchen auf, „was soll ich bei der dummen Lore?“

      „Du kennst sie ja gar nicht.“ Die Mutter versuchte ein gütiges Zureden. „Du wirst Lore lieben. Du musst ja so dankbar sein, dass du ihr zur Freundin erkoren bist. Welche Freuden stehen dir bevor: das schöne Haus — doch noch ein bisschen ein anderes Haus als hier unsere kleine Villa, in der einer dem anderen lästig auf dem Halse sitzt — der Obstgarten, der Park! Ihr werdet ausfahren, Lore kutschiert zwei niedliche Ponys. Ihr werdet vielleicht sogar reiten lernen, reiten ist der schönste und vornehmste Sport, ich beneide dich!“

      „Dann geh du doch hin.“

      „Sprich nicht solchen Unsinn!“ Frau Ingeborg wollte streng sein, aber es gelang ihr nicht recht; mit Strenge war auch noch niemals etwas bei Britta auszurichten gewesen. So versuchte sie es anders: „Ach, Kind, Kind, wie betrübst du deine Mutter — deine arme Mutter! Was würde dein Vater, mein guter Bade, dazu sagen, dass du so widersetzlich gegen mich bist!“

      „Mein Vater ist tot, der hat nichts mehr zu sagen. Ich habe jetzt einen anderen“, murmelte das Mädchen, kehrte sich gegen die Wand und schien nicht mehr zu sehen noch zu hören. — — —

      „Das ist dein Werk“, schrie Frau Ingeborg ihrem Mann ins Gesicht, nachdem sie sich beim Zubettegehen bereits lange über Brigitte beklagt hatte, „du hast ihr Flausen in den Kopf gesetzt. Ist das wohl erhört, eine so dumme Iöre wie ein Fräulein zu behandeln? Ihre Widersetzlichkeit ist allein deine Schuld, ganz deine Schuld. Oh, wie hing sie früher an mir, jetzt bin ich ihr nichts mehr! Du hast mir Brittas Herz gestohlen, nur dir sieht sie nach den Augen. Ich könnte heute fortgehen und morgen nicht mehr wiederkommen, es wäre ihr ganz egal. Nur von dir mag sie nicht getrennt sein. Pfui, du Verderber!“ Sie machte die Gebärde des Ausspeiens, dann brach sie in Weinen aus.

      „Ich weiss gar nicht, warum du so ausser dir bist.“ Er sah sie kalt an.

      „Du bist ein Lügner, ein Betrüger, ein Verführer! Du machst das junge Ding verrückt nach dir, geradeso, wie du mich verrückt gemacht hast! Ich begreife mich selber nicht, wie konnte ich dir nur gleich so verfallen? Einem Menschen, der nichts ist und nichts hat. Was tuschelt ihr immer zusammen, was flüsterst du ihr in die Ohren? Oh, ich habe es heut abend wohl gemerkt, dass ich euch störe — du bist ein gemeiner Mensch, ich lasse mich von dir scheiden — o du gemeiner Kerl!“ Nun machte sie nicht mehr bloss die Gebärde des Speiens, sie spie ihn wirklich an.

      Da packte er ihre beiden Handgelenke, starr sah er ihr ins Gesicht, mit eiserner Kraft drückte er sie in die Knie, den zwingenden Blick nicht von ihr lassend: „Du wirst das nicht tun. Scheiden lassen? Du wirst dich nicht scheiden lassen — hörst du? — nicht scheiden lassen!“ —

      Er presste ihre Handgelenke, bis sie ächzte: „Nein, nein!“

      „Du wirst dich nicht unterstehen, nochmals falsche Beschuldigungen gegen mich zu erheben!“

      „Nein, nein.“ Sie lag vor ihm, ganz zusammengefallen. Er hatte ihre Hände losgelassen, aber sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, ihre schmerzenden Handgelenke zu reiben.

      „Du wirst dir die dreissigtausend Mark unter allen Umständen verschaffen. Du wirst sie mir geben, hörst du?“

      „Nein“, stiess sie verzweifelt heraus.

      „Du wirst es tun. Du wirst sie mir geben, hörst du?“ Er stiess sie mit dem Fuss an.

      „Nein!“

      „Du wirst sie mir geben“ — schon packte er wieder ihre Handgelenke, riss sie zu sich empor und blickte ihr von ganz nah starr ins Gesicht —, „du wirst sie mir geben!“

      „Ja,

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