Die Nacht im Teppichsaal. Isolde Kurz
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Dem alten Gärtner, der selten mehr die Wohltat eines Gesprächs mit Höhergebildeten genoß, war unterdessen das Herz weit aufgegangen, und er hatte den Wanderer in die ganze Geschichte der herrschaftlichen Familie durch mehrere Generationen, so wie sie ihm selber bekannt war, eingeweiht. Daß dieser zwar nicht um die Persönlichkeiten, wohl aber um die einschlägigen Verhältnisse Bescheid wußte, vermehrte sein Zutrauen und ließ ihm den unerwarteten Besucher fast wie einen alten Bekannten erscheinen. Nun rückte der Fremde mit seinem Wunsch, hier oben schlafen zu dürfen, heraus. Der alte Mann blickte bedenklich: in seiner Gärtnerwohnung sei kein Raum und sie wäre auch zu gering für einen solchen Gast. Der Herrschaft würde ja freilich kein Unrecht geschehen und sie brauchte es auch gar nicht zu erfahren, wenn er den fremden Herrn in einem ihrer Privatzimmer im unteren Stockwerk schlafen ließe, er hätte aber dabei doch das Gefühl, seiner Pflicht untreu geworden zu sein. Der obere Stock aber mit den Räumen für Gäste und Dienerschaft sei im Verfall und auch ganz vollgepfropft mit Gerümpel, bis auf den Teppichsaal, der allein noch heil sei, aber unter den Wandteppichen könne ein Mensch nicht schlafen.
Einen Teppichsaal habt Ihr hier oben? fragte der Wanderer mit angenehmer Überraschung. Und warum soll man in dem nicht schlafen können? Nun, es sei doch nicht angenehm, ganz allein zu sein mit den fremden Gesichtern, die einen von der Wand herab anstarrten, meinte der Gärtner. Er habe einmal mit seiner Enkelin eine Nacht da oben zugebracht, als ihm der Sturmwind das Dach seines Häuschens abgetragen hatte. Aber das Kind habe sich vor den Figuren so gefürchtet, daß auch ihm ganz unbehaglich zumute geworden sei.
Ihr werdet mich aber doch nicht von hier wegschicken, Großvater, ohne daß ich Eure Kunstschätze wenigstens gesehen habe? Eine Sammlung alter Wandteppiche mit figürlichen Darstellungen? Um die hätte sich‘s ja allein verlohnt, den Weg hierher zu machen.
Ach nein, Herr, Sie dürfen sich nichts Besonderes vorstellen. Kunstschätze sind es nicht, es sind nur so alte gewebte Dinger, schäbig und angefressen, die schon seit Hunderten von Jahren dahängen und weiter verstauben. Nein, Sie sehen gar nichts daran und lachen mich aus, wenn ich Sie hinführe. Bloß bei Nacht, wenn man die Kerze brennen läßt oder wenn der Mond drüber hinstreift, machen sie so sonderbare Gesichter, daß man denkt, sie schauen einen an. Aber in den unteren Sälen hängen schöne Gemälde, die will ich Sie gerne sehen lassen, damit Sie nicht umsonst heraufgewandert sind.
Er schloß die Eingangstür auf.
Das Innere der Villa war, wie es der Wanderer erwartet hatte. Weite Prunkräume ohne Wohnlichkeit, augenscheinlich zu Empfangszwecken gebaut, eine jener anspruchsvollen Villen, die von den Besitzern nur vorübergehend bezogen werden, um hochstehende Gäste festlich zu bewirten; auf diese Bestimmung wiesen auch die baufälligen Stallungen und Wagenschuppen im Hofe hin. An den Wänden eine lange Reihe von Bildnissen toskanischer Herrscher, bei Cosimo I. beginnend, alle höfisch langweilig, dazwischen ein paar leidliche Kopien nach Werken der großen Kunst. Nur weniges, aber mächtiges Hausgeräte, echt und alt mit der unsäglichen Stimmung von Verwaistheit und Schwermut, wie sie solche seit Menschengedenken nicht benützten Räume ausatmen. In den Schlafgemächern die schönen, freistehenden Riesenbetten mit brokatenen Prachtgehängen und der dazugehörenden reichen Truhe am Fußende, venezianische Spiegel, eingelegte Spinde, kunstreiche Kandelaber, lauter Kostbarkeiten vergangener Geschlechter, unter denen zu ruhen der Eindringling gar keine Lockung spürte.
Auf sein Drängen führte ihn der Alte dann auch eine breite Steintreppe hinauf in das obere Geschoß. Hier war das Reich der Spinnweben und des Verfalls, die Luft stokkig, alle Räume mit überzähligem Hausrat angefüllt oder völlig leergelassen, weil die Fenster fehlten.
Und der Teppichsaal?
Hier ist er.
Eine verquollene Tür wird aufgestoßen, und ein langgestreckter, schmälerer Raum, das ganze Haus der Breite nach von West nach Ost durchziehend, mehr Galerie als Saal, empfängt die Eintretenden. Die Schmalwände sind fast ganz von den mächtigen dreigeteilten Fenstern eingenommen, je zwei an einer Seite, die, wenn die Läden geöffnet sind, Licht und Luft in Strömen einlassen, eine schön kassettierte Decke, deren gebräuntes Gold in der Abendsonne aufleuchtet, an beiden Längswänden nichts als die Teppiche. Ein Blick genügt dem Kundigen, um zu erkennen, daß er eine zwar schlecht erhaltene, aber nicht unbedeutende Sammlung vor sich hat. Es geschieht ihm nicht zum erstenmal, daß er an ganz verwahrloster Stätte einen Kunstwert entdeckt, für den seine Besitzer blind gewesen. Darum pflegt er sich auch festzuhaken, wo er so etwas wie eine Witterung hat; aber eine Ernte wie diese ist doch eine Überraschung.
Da seid ihr ja, dachte befriedigt der Wanderer, denn es schien ihm in diesem Augenblick fast, als ob er der Teppiche wegen gekommen sei. Denn Figurenteppiche waren seine Leidenschaft, er zog sie der Malerei bei weitem vor, und er pflegte zu versichern, daß das größte Meistergemälde sich nicht an ergreifender Ausdruckskraft mit der steifen Ungeschicklichkeit so eines gewebten Teppichbildes vergleichen könne. Sie taten eine ähnliche Wirkung auf ihn wie die Marionetten, die ihn auch in tiefere Entzückung versetzen konnten als die größte Darbietung dramatischer Kunst. Denn die Puppen, sagte er, das seien die wahren Künstler, sie stellten nicht das Einmalige dar, sondern das Absolute, die ewige Idee. Alles Leid der Erde sei in so einem Kasperl beisammen, wenn er hilflos an der Wand lehne und nur die Hand noch leise bewege, überwältigt von Schmerz. Dann sei es schwer, sich der Tränen zu enthalten. So gehe es ihm auch mit der frühen, noch einfältigen Teppichschilderei, denn je ferner der Wirklichkeit, je näher der Vorstellung, die das wahre Leben sei.
Hier an der abgelegensten Stelle des Casentino, in einem Raum, den seit lange nur Spinnen und Asseln bewohnten, fand er seiner Liebhaberei eine Befriedigung, deren Fülle ihm fast den Atem nahm. Bleiben! sagte eine Stimme in ihm, dieselbe, die ihm geboten hatte zu kommen. Die Teppiche an der dem Eingang gegenüberliegenden Nordwand zogen ihn besonders an, sie schienen die ältesten zu sein, ihre Farben waren teilweise verblaßt, auch hatten die Motten da und dort an ihnen gearbeitet, aber alle entstammten sie einer schöpferischen Phantasie und edler, zielsicherer Kunstgesinnung. Da gibt es Frauen in Prunkgewändern, gewappnete Ritter, belagerte Festungen, rennende Rosse und gefällte Lanzen, Liebesgärten mit jungen Paaren; ganze Zeiträume voll wilder und zärtlicher Begebnisse, Geschichte oder Legende, sind auf dieser Wand beisammen. Wo der Raum nicht ausgefüllt ist, schieben sich Schmalstücke mit florealen Darstellungen, sogenannte „Verdüren“, ein. Minder fesselt ihn die gegenüberliegende südliche, die mehrfach von Türen unterbrochen ist. Ihre Teppiche sind bei weitem besser erhalten, weil sie nicht aus Wolle, sondern aus Seide gewirkt und mit Goldfäden durchzogen sind, aber an Kunstwert erscheinen sie dem empfindlichen Auge beim flüchtigen Überblick geringer, weil die lebhaft bewegten Gruppen von augenscheinlich historischem Inhalt stark und anspruchsvoll aus der Wand heraustreten. Einem Kind