Europa 2020. Winfried Böttcher
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Im Kapitel 5 des Buches begründe ich, warum wir in einer doppelten Systemkrise stecken, einer Krise, die in erster Linie eine Krise des Nationalstaates ist. Da die Europäische Union den Nationalstaat niemals überwunden hat, auf den Nationalstaaten gründet, reißt der Nationalstaat das europäische Projekt zwangsläufig mit hinein (vgl. hierzu Kap. 5.2).
Im ersten Teil des Buches habe ich neben den drei oben bereits erwähnten systemischen Krisen vier weitere Krisen – Finanzen, Ukraine, Brexit und Corona – ausgewählt, die Elemente unserer grundsätzlichen Krisenerscheinung aufweisen. An diesen sieben Krisenbeispielen können wir dann verdeutlichen, wie tief wir schon in einer Fundamentalkrise stecken, die nicht durch Kompromisse zu regeln, schon gar nicht zu lösen ist.
Bisher wurden Krisen, sowohl in einzelnen Nationalstaaten wie auch auf internationaler Ebene oder in der Europäischen Union, mehr oder weniger durch Kompromisse − nicht selten nur vorübergehend – geregelt. Sie konnten jederzeit wieder aufbrechen. Nur durch eine Beseitigung der Ursachen kann eine Krise gelöst werden.
Nach Beschreibung und Analyse der Krisen, die in den real-existierenden nationalen und internationalen Systemen, wozu auch die Europäische Union gehört, nicht zu lösen sind, mache ich einen Vorschlag für einen Systemwechsel. Ich beschränke mich allerdings nur auf die europäische Ebene.
Natürlich weiß ich, dass die Vorwürfe kommen werden, ich machte unrealistische Vorschläge. Ich weiß aber auch, dass vor jeder praktischen Umsetzung eine Idee steht und dass „keine Idee eine gute ist, die nicht am Anfang als völlig illusorisch erschien“ (Albert Einstein, 1879–1955).
Ich gehe also davon aus, dass der Nationalstaat seine historische Funktion erfüllt hat, zum Beispiel seinerzeit mit der Abschaffung des Feudalismus. Weiter gehe ich davon aus, dass mit den Nationalstaaten Europa nicht zu bauen ist, wie siebzig Jahre Integrationsversuche gezeigt haben.
Von daher schlage ich in einer Skizze in Kapitel 5.4 einen Systemwechsel vor, Europa ohne Nationalstaaten in einer Regionalisierten Republik neu zu gründen.
1 Zum Krisenbegriff
Der zentrale Begriff im ersten Teil des Buches heißt: Krise.
An sieben ausgewählten Krisenszenarien für das unruhige Jahrzehnt 2010 bis 2020 verdeutlichen wir unterschiedliche Veränderungsprozesse, die durch ganz unterschiedliche Krisen hervorgerufen wurden, auf ganz unterschiedlichen Feldern, und die ganz unterschiedlich noch andauern.
Alle ausgewählte Krisen – die Flüchtlingskrise, der Ukrainekonflikt, der Brexit, das Virus des Nationalismus, die Umwelt- und Klimakrise, die Coronakrise – zeigen in ihrer Breite und Tiefe individuelle, familiäre, gruppenspezifische, gesellschaftliche, regional-, national-, europa- und globalsystemische Facetten. So wird das Phänomen Krise an sieben Beispielen aus vielen Ecken beleuchtet.
(Im Weiteren zum Krisenbegriff übernehme ich das Kapitel aus meinem Buch Klassiker des europäischen Denkens 2014, teilweise überarbeitet und ergänzt.)
Das Wort „Krise“ bedeutet in seinem griechischen Ursprung (krinein = prüfen, sich entscheiden) Unterscheidung oder Entscheidung, wie es Thukydides (460–395), der Vater der Geschichtsschreibung, in der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ verstanden hat (vgl. Starn 1973, 52f.).
„Es ist wahr, der Persische Krieg übertrifft an Bedeutung alle Taten früherer Zeiten. Indessen war derselbe bald zu Ende, und alles wurde durch zwei Schlachten zu See und auf dem Lande entschieden“ (Thukydides 1925, I, 23, s. auch: III, 31–83).
Für Randolph Starn ist die „wichtigste und interessanteste Auslegung des Begriffs“ bei dem griechischen Arzt Hippokrates (460–377), einem Zeitgenossen von Thukydides, zu finden, wenn er über die Krise bei Krankheiten nachdenkt: „Die Krise tritt in Krankheiten immer dann auf, wenn die Krankheiten an Intensität zunehmen oder abklingen oder in eine andere Krankheit übergehen oder überhaupt ein Ende haben“ (Hippokrates: De affectionibus, zit. bei: Starn 1973, 53).
Aus dem Krisenbegriff bei Hippokrates können wir mehrere verallgemeinernde Schlüsse ziehen. Danach ist jede Krise ein offener Prozess. Der Ausgang ist nicht vorhersehbar, also nicht zwangsläufig. Je nach Verlauf der Krise entscheidet sich, ob sie eine Wendung zum Besseren oder zum Schlechteren nimmt. Jede Krise hält also Alternativen bereit, beinhaltet auch Chancen. Krisen sind beeinflussbar, beherrschbar, wenn das Krisenmanagement eine Vorstellung davon hat, welche Veränderungen durch die Krise erreicht werden sollen.
„In jedem Fall geht es hier um eine in sich unhaltbare Situation, die sich durch extreme Ambivalenz ihrer Entwicklungsmöglichkeiten auszeichnet und in der ,etwas geschehen muß‘. Genauer gesagt ist diese Situation eine objektive Gegebenheit, die bestimmte Subjekte unter Entscheidungs- und Aktionszwang setzt, weil sie eine Bedrohung von Zielen darstellt, die für diese Akteure unaufgebbar sind. Ein weiteres Merkmal des entscheidungstheoretisch konzipierten Krisenbegriffs ist der Zeitdruck. ,Krise ist ein Entscheidungsprozeß unter Zeitdruck‘ (Karl Deutsch)“ (Jänicke 1973, 33, vgl. auch: Vierhaus, in: Jordan 2002, 193–197).
Das ungewisse Nichtwissen erschwert die Lösung einer Krise, für die es eben d i e Lösung nicht gibt. Da Krisen immer ein offener Prozess sind, mit einer Art Janusgesicht, dem römischen Gott des Anfangs und des Endes, gibt es immer mehrere Möglichkeiten, Krisen zu bewältigen. Krisen offenbaren einen Zustand, der auf Veränderungen zielt. Individuelle Krisen sind niemals rückwärtsgewandt, sondern deuten in ihrem Prozess auf Zukünftiges hin. Selbst wenn eine Revolution durch eine Konterrevolution niedergeschlagen wird, ist der gesellschaftliche Zustand danach ein anderer.
Krisenbewältigung ist auch deshalb besonders kompliziert, weil es meist keine monokausale Erklärung für den Ausbruch einer Krise zu einer bestimmten Zeit gibt.
An drei Beispielen wollen wir noch den Krisenbegriff in gebotener Kürze illustrieren: Karl Marx (1818–1883), Jacob Burckhardt (1818–1897), Paul Valéry (1871–1945) (vgl. Böttcher, 2014, 387ff., 377ff., 480ff.).
Bei Marx waren Krise und Überproduktion zwei Seiten derselben Medaille. Für ihn entstanden Krisen durch eine massive Gleichgewichtsstörung von Produktion und Konsumption. Er ging von der These aus, dass im Kapitalismus ein Gleichgewicht nicht möglich sei, von daher in kapitalistischen Gesellschaften eine Krise die nächste ablöse. Erst die Aufhebung (im Hegelschen Sinne) der kapitalistischen Gesellschaft im Kommunismus könne wieder ein stabiles Gleichgewicht herstellen.
„Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut der Konsumptionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktionskräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumptionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde“ (MEW 1970, Bd. 25, 501, vgl. auch MEW 1971, Bd. 24, 318, Anmerkung, MEW 1972, Bd. 4, 466ff., Starn 1973, 55f., auch: Böttcher,2014, 387ff.).
„Überproduktionskrisen“ sind zunächst ökonomische Krisen, die jedoch mit zunehmender Verschärfung alle Gesellschaftsbereiche befallen.
Während Marx sein Krisenszenario als Auseinandersetzung zwischen Klassen entfaltet, untersucht Jacob Burckhardt in seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ Krisen als Ursache für eine notwendige Weiterentwicklung der Gesellschaft. Ohne Krisen gibt es keinen gesellschaftlichen Wandel. Krisen, in denen „die politische und soziale Grundlage nie erschüttert wird“ (WB 1941, 260), können nicht als echte Krisen angesehen werden. Als „wahre Krise“ sieht er die Völkerwanderung, eine „Verschmelzung einer