Reden straffen statt Zuhörer strafen. Katja Kerschgens
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Beispiel
Die Teilnehmerinnen in meinem Rhetorikseminar für Frauen bereiteten ihre Abschlussrede vor. Eine jammerte leise vor sich hin: „Ich weiß ja gar nicht, ob Sie das überhaupt interessiert, was ich da gleich erzähle …“ Als sie an der Reihe war, begann sie mit den Worten: „Ich habe 15 Kilogramm abgenommen!“ Und dann berichtete sie mit dem Krimitrick von einem Sport, der es ihr ganz einfach gemacht hatte, dieses Ziel zu erreichen, der ihr viele neue Freunde eingebracht hatte, der ihr bis heute Spaß macht. Am Ende verriet sie: „Dieser Sport ist Aquajogging – und ich empfehle Ihnen: Probieren Sie es auch aus!“ Anschließend sehen wir uns alle gemeinsam die Videoaufnahme an. Wieder jammert sie: „Ich weiß immer noch nicht, ob Sie das überhaupt interessiert hat, das ist ja nur mein Hobby.“ Sie erntet Empörung: „Das war total interessant!“ „Ich wollte unbedingt wissen, was Sie für einen Sport machen!“, kurz: Das Feedback ist großartig. Sie hatte ihre Begeisterung für ihr Hobby so anschaulich rübergebracht, weil sie ganz bei sich selbst war: Ihre Augen leuchteten, sie sprühte vor echter Begeisterung. Damit machte sie neugierig und überzeugte. Es kam weniger darauf an, was sie erzählte – es kam darauf an, wie sie es erzählte! Die Teilnehmerin ging mit neuem Selbstbewusstsein nach Hause: Wir hatten ihr erlaubt, sie selbst zu sein!
Straffe Reden erlauben es dem Redner, er selbst sein zu dürfen.
Raus aus der Rolle!
Ein straffer Redner spielt niemals eine Rolle. Wer vor Publikum eine Rolle spielt, spielt Theater. Wer aber eine Rede hält, sollte bei sich selbst bleiben, denn diese „Rolle“ kennt er am besten. Und je echter jemand wirkt, umso lieber gehen die Zuhörer innerlich mit, ja, vertrauen ihm sogar unbewusst: „Wer so viel von sich zeigt, scheint auch sonst ein ehrlicher Mensch zu sein!“
Ein straffer Redner gibt etwas von sich selbst preis, berührt Menschen und schafft Vertrauen. Wer eine Rolle spielt, schottet sich ab.
Wenn Sie einfach nur Sie selbst sind, verbrauchen Sie am wenigsten Energie und sind kaum abgelenkt von Ihrer Aufgabe, Ihre Rede zu halten. Wenn Sie aber eine Rolle spielen, sollten Sie ein gutes Gedächtnis haben: Wann und wo waren Sie genau wer …? Ihre Gesten wirken einstudiert, Ihre Worte vielleicht sogar gestelzt. Fänden Sie selbst einen solchen Redner sympathisch?
Wenn Sie sich nicht verstellen, haben Sie natürlich ein Problem: Es könnte jemanden geben, der Sie nicht so akzeptiert, wie Sie eben sind. Also verstellen Sie sich vielleicht doch wieder, um auch dem letzten zu gefallen?
Reden straffen heißt: Sie können nie alle überzeugen. Was Sie brauchen, sind Mehrheiten.
Schwächen sind erwünscht
Ein Redner, der ganz bei sich selbst ist und keine Rolle spielt, ist ein Unikum und unverwechselbar. Alles andere ist Theater. Das heißt auch, dass Sie zeigen sollten, dass Sie über sich selbst lachen können. Zeigen Sie, dass Sie ein Mensch sind. Stehen Sie zu Ihren Schwächen oder Fehlern.
Beispiel
Fast zweihundert Zuhörerinnen lauschten in dem großen Saal meinem Vortrag. Ich war gut in Fahrt, sprach wie immer frei. Plötzlich erinnern mich meine eigenen Worte an eine Geschichte. Und ich sage auch noch: „Ach, dazu fällt mir gerade eine sehr passende Geschichte ein …“ Und dann – nichts mehr. Sendepause. Blackout. Die Geschichte ist in dem Moment, in dem sie mir in den Kopf gekommen war, auch schon wieder verschwunden. Keine Chance, ich komme einfach nicht mehr drauf, was ich gerade erzählen wollte. Ich schaue mit verblüfftem Gesichtsausdruck in den Saal – und schweige. Da fängt eine Dame in den ersten Reihen schallend an zu lachen, ich erkenne sie: Sie war Teilnehmerin in einem meiner Seminare gewesen. Ich schaue sie an, frage sie: „Was habe ich Ihnen gesagt, was Sie machen sollen, wenn Ihnen bei einer Rede der Faden reißt?“ Sie ruft lachend zurück: „Ich soll sagen, dass mir der Faden gerissen ist!“ Ich sage: „Danke! Das tue ich jetzt auch: Mir ist der Faden gerissen!“ Es folgt fröhliches Gelächter im Saal und Szenenapplaus. Ich orientiere mich neu anhand meiner Redekarten und setze meine Rede kurzerhand an anderer Stelle fort. Noch beim Verabschieden am Ende der Veranstaltung fragten mich einige Zuhörerinnen, ob mir meine Geschichte denn wieder eingefallen sei. Aber sie war immer noch weg, und wir lachten herzlich darüber. Lange Zeit später traf ich einige der Damen wieder, die diesen Vortrag erlebt hatten. Sie lachten wieder fröhlich. „Ach, das fanden wir ganz toll, dass Sie da einen Aussetzer hatten“, sagten sie, „das war so menschlich. Es war beruhigend zu sehen, dass das auch einem Profi passieren kann!“
„Habe keine Angst vor der Perfektion. Du wirst sie nie erreichen“, hat Salvador Dali gesagt. Ein wahrer Satz. Denn Perfektion erzeugt Aggression. Fehler machen uns zu Menschen. Und an Menschen erinnern wir uns am liebsten.
Meistens kommt es anders …
Gehen Sie niemals davon aus, dass Sie Ihre Rede so halten werden, wie Sie sie vorab geplant haben. Es wird immer ein bisschen anders kommen, Sie werden Sätze anders formulieren, Aussagen vergessen oder anders sprechen als vorher ausgedacht.
Das macht nichts. Denn die einzige Person, die das weiß, sind Sie selbst. Ihre Zuhörer wissen nicht, was Sie eigentlich sagen wollten. Wenn Sie also nach Ihrer Rede unzufrieden sind, dann liegt das ausschließlich an der Perfektionsfalle in Ihrem eigenen Kopf. Die Zuhörer hören nur das, was sie hören. Und das sind für sie hundert Prozent. Ihre gewünschten hundert Prozent sind ein Traum. Und wie das mit Träumen immer so ist: Sie lassen sich schwer einfangen. Also setzen Sie sich nicht unnötig unter Druck: Perfektion ist nicht das Ziel. Menschlichkeit sollte Ihr Ziel als straffer Redner sein!
Reden straffen ist das Gegenteil von Perfektion:
Improvisation und Fehler wirken menschlich und werden vom Zuhörer begrüßt.
Durchbrechen Sie Denkmuster!
Wer etwas anders macht als andere, der lehnt sich weit aus dem Fenster. Sie wollen sich lieber nicht aus dem Fenster lehnen? Das ist nachvollziehbar, denn wer das tut, gibt vielen die Chance, zu einem vernichtenden Schlag auszuholen. Wer laut sagt, was er denkt, riskiert Kritik. Aber wer es lässt, riskiert Profillosigkeit. Umso mehr ist der Mut des Redners zu bewundern, der ausspricht, was er denkt. Denn Redner, die auch mal polarisieren, regen ihre Zuhörer zum Denken an.
Nur wer sich weit aus dem Fenster lehnt, überblickt den ganzen Horizont: Straffe Reden entwickeln Visionen.
George Orwell hat das einst wunderbar formuliert: „Wenn Freiheit überhaupt etwas bedeutet, dann das Recht, anderen Leuten das zu sagen, was sie nicht hören wollen.“ Wie wahr. Doch viele Menschen wollen sich in ihrem Denken nicht gestört fühlen. Und gerade alte Denkmuster und falsche Vorstellungen verleiten Menschen dann dazu, unstraffe Reden zu halten. Doch gerade starke Statements und klare Meinungen bringen den Zuhörer dazu,