Führen ohne Psychotricks. Frank Hagenow
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Der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, verkündete auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin am 15. Juni 1961: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.« Das war glatt gelogen, denn begonnen wurde der Mauerbau dann schon etwa zwei Monate später, im August 1961. Oder denken Sie nur an die Berichte über Saddam Husseins vermeintliche Giftgasanlagen und Massenvernichtungswaffen im Irak, mit denen der Golfkrieg 2003 vom Zaun gebrochen wurde – und die dann hinterher keiner gefunden hat.
Allerdings sind wir keineswegs immer nur das arme Opfer, das wieder einmal den hinterhältigen Machenschaften fieser Manipulatoren auf den Leim gegangen ist. Oft genug sind wir auch Täter, indem wir selbst versuchen zu manipulieren und zu tricksen, um uns einen Vorteil zu verschaffen. Vielleicht tun wir dies sogar, ohne uns dessen bewusst zu sein. Die Übergänge von der wohlwollenden Auslegung bestimmter Aussagen zu unseren eigenen Gunsten bis hin zum handfesten Betrug in der Hoffnung, dass es keiner merkt und wir ungestraft in den Genuss der verbotenen Früchte kommen, sind fließend. Da ist es letztlich ganz gleichgültig, ob es um die wohlwollende Interpretation der eigenen Steuererklärung oder die Strategie Ihres Rechtsanwalts vor Gericht geht.
Menschen in Führungspositionen müssen jedoch neben den Wünschen des Einzelnen auch immer das große Ganze im Blick behalten und versuchen, sämtliche Erfordernisse mit Weitblick zu berücksichtigen. So würde es zum Beispiel keinen wirklichen Sinn ergeben, wenn ein Chef allen seinen Mitarbeitern den nachvollziehbaren Wunsch nach einer generösen Gehaltserhöhung erfüllt und damit die Liquidität des Unternehmens für mittelfristige Investitionen gefährdet. Denn dann könnte es passieren, dass am Ende für alle die Lampen ausgehen.
Der Traum vom Glück
Wenn Sie gern Lotto spielen, sind Sie in guter Gesellschaft. Das tun mit Ihnen in Deutschland jede Woche etwa 20 Millionen Menschen. In anderen Ländern dürfte das Interesse ähnlich hoch liegen. Die Chancen auf einen echten Lottogewinn in nennenswerter Höhe sind allerdings tatsächlich sehr gering. Sie liegen etwa bei 1:140 Millionen (6 aus 49 mit Superzahl). Das bedeutet, dass es ungefähr 140 Millionen verschiedene Kombinationen dieser Zahlen gibt und Sie theoretisch 140 Millionen verschiedene Tipps abgeben müssten, um mit Sicherheit die gezogenen Zahlen dabei zu haben. Oder anders ausgedrückt: Sie spielen mit Ihrer Tipp-Kombination gegen etwa 140 Millionen andere Tipp-Kombinationen, die mit gleicher Wahrscheinlichkeit gezogen werden könnten.
»Nicht ausgeschlossen«, werden Sie jetzt vielleicht sagen, »schließlich trifft es ja fast jede Woche irgendeinen Glücklichen in diesem Land.« Stimmt auch. Allerdings gewinnt dieser Glückliche ja auch nur das Geld, was andere vorher eingesetzt und verloren haben. Haben Sie gewusst, dass nur etwa 50 Prozent der Lottoeinnahmen auch tatsächlich wieder an die Gewinner verteilt werden? Die andere Hälfte versickert schon vorher in der Staatskasse und bei den Betreibergesellschaften. Als zusätzliche Raffinesse kommt hinzu, dass Sie auch bei einem Hauptgewinn nicht wissen, wie hoch Ihr Gewinn tatsächlich ausfallen wird. Dies hängt nämlich zunächst einmal davon ab, wie viele Menschen überhaupt mitgespielt und in den Glückstopf eingezahlt haben. Und dann kommt es noch darauf an, ob es neben Ihnen auch andere Glückliche gibt, die dieselben Zahlen getippt haben. Wenn Sie das Pech haben, dass neben Ihnen auch noch fünf andere den Jackpot geknackt haben, dann wird die Gewinnsumme letztlich unter Ihnen allen aufgeteilt. Sie sehen schon, das Risiko ist vollkommen auf Ihrer Seite.
Da stellt sich doch die Frage, warum überhaupt so viele Menschen jede Woche wieder einen Lottoschein ausfüllen. Zumal viele von ihnen auf Nachfrage angeben, ohnehin nicht ernsthaft mit einem großen Gewinn zu rechnen. Es scheint also nicht wirklich um die reale Gewinnchance zu gehen, sondern es geht um den Glauben an das persönliche Glück. Genau genommen kaufen wir uns mit dem Lotterielos eine Baugenehmigung für unsere Luftschlösser. Es gibt uns die Gelegenheit, mit relativ geringem Einsatz über die eigenen Grenzen und Beschränkungen des Alltags sowie unserer Lebensrealität hinaus zu träumen. Schnell wird da der eigentlich wertneutrale Zufall auf die eigene Person bezogen und je nach seiner positiven oder negativen Ausrichtung als Glück oder Pech wahrgenommen. Fragen Sie einmal die Menschen in Ihrem Umfeld, was sie mit einem Lottogewinn anfangen würden. Und dann beobachten Sie dabei deren Reaktion. Selbst eingefleischte Realisten und erklärte Lottogegner, die überhaupt nicht Lotto spielen, fangen plötzlich an, Wunschträume zu formulieren und sich auszumalen, wie ihr Leben mit viel Geld in einer besseren Welt aussehen könnte.
In diesem Zusammenhang ist übrigens interessant, sich einmal mit realen Lottogewinnern zu beschäftigen. So hat man Menschen, die tatsächlich mit einem größeren Millionengewinn gesegnet waren, nach einigen Jahren wieder besucht. Man wollte wissen, was aus ihnen und ihrem Gewinn geworden ist. Das Ergebnis ist ebenso verblüffend wie ernüchternd. Man traf im Wesentlichen zwei verschiedene Gewinnertypen an: Die einen lebten in einem gewissen, wenn auch nicht übertriebenen Wohlstand, während die anderen pleite waren oder sogar noch mehr Schulden als vorher hatten. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, dass die Menschen der einen Gruppe auch schon vor dem Lottogewinn mit ihren früheren, bescheideneren Mitteln ein durchaus zufriedenstellendes Leben geführt hatten. Bei der anderen Gruppe zeigte sich, dass diese Menschen auch schon vorher erhebliche Schwierigkeiten hatten, mit Geld wirtschaftlich umzugehen. Daran hatte auch der unerwartete Geldsegen nichts geändert. Vielmehr wurde das Geld innerhalb kurzer Zeit für allerlei spontane Konsumträume wie Reisen, Autos, Kleidung, Luxusartikel und Partys ausgegeben. Unterm Strich könnten wir sagen, dass auch ein unerwarteter Gewinn nur dann langfristige Vorteile hat, wenn es gelingt, verantwortungsbewusst und mit Weitblick damit umzugehen. Und damit schließt sich der Kreis zu den Kompetenzen, die Sie auch als Führungskraft für einen langfristigen Erfolg benötigen.
Die Macht der Gewohnheit
Am Beispiel statistischer Wahrscheinlichkeiten ist gut zu erkennen, wie sehr uns unsere subjektive Wahrnehmung und Einschätzung der Realität einen Streich spielt. Gefühlt wird ein Ereignis umso unwahrscheinlicher, je länger es nicht eingetreten ist. Je häufiger wir mit einem Ereignis konfrontiert werden, desto schneller wird es für uns zur Normalität. Wenn Sie beispielsweise 20 Jahre lang unfallfrei Auto gefahren sind, ist das nichts Besonderes mehr für Sie. Sie gehen dann fast wie selbstverständlich davon aus, dass Sie auch bei Ihrer nächsten Fahrt unfallfrei an Ihr Ziel gelangen werden. Schließlich ist es ja schon lange gut gegangen. Sie sind ein erfahrener, guter Autofahrer, und der Erfolg gibt Ihnen irgendwie recht. Statistisch gesehen steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls mit jedem Tag, an dem Sie keinen Unfall hatten, gerade weil es ja schon so lange gut gegangen ist. Irgendwann ist das Unfallereignis jedoch statistisch fällig. Dennoch suggeriert uns die unfallfreie Realität eine trügerische Sicherheit, sie vermittelt uns den Eindruck der eigenen Unverletzlichkeit. Trotzdem würden Sie vermutlich nicht aufhören, sich beim Autofahren anzuschnallen, nur weil Sie den Sicherheitsgurt in der Vergangenheit nicht gebraucht haben.
In unserer Lebensrealität werden wir immer wieder mit Ereignissen konfrontiert, die zwar statistisch gesehen ähnlich selten wie ein Lottogewinn eintreten, die uns aber dennoch mit großer Sorge erfüllen. Dazu gehören so unliebsame Ereignisse wie vom Blitz getroffen zu werden oder von einem herabfallenden Ziegelstein oder einem umfallenden Baum. Vielleicht befürchten wir auch, einem Terroranschlag oder dem Angriff eines Haifischs zum Opfer zu fallen. Auch ein Flugzeugabsturz dürfte auf der Skala der Dinge, auf die wir gern verzichten können, ganz oben stehen. Wie Sie vielleicht wissen, besteht jedoch die größte Gefahr, während einer Flugreise zu Schaden zu kommen, darin, auf dem Weg zum Flughafen einen Autounfall zu erleiden. Trotzdem schätzen wir die gefühlte Gefahr viel höher ein, als es ihrer statistischen