Traumatische Verluste. Roland Kachler
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Ein Verlusttrauma ist als prolongiertes Monotrauma zu verstehen, weil das wiederholte Erleben der realen äußeren Abwesenheit des Verstorbenen den traumatisierenden Verlust erneuert.
Wir müssen also bei einem Verlusttrauma von einem verlängerten Monotrauma sprechen, das sowohl gegenüber dem Monotrauma (wie dem Erleben eines eigenen Autounfalles) als auch gegenüber dem komplexen Trauma (wie beispielsweise bei über längere Zeit zugefügter Folter) eine eigene Dynamik hat.
2.4Das Verlusttrauma als komplexes Man-involved- Trauma
Eine weitere wesentliche Unterscheidung bei verschiedenen Traumata macht die Psychotraumatologie in Hinblick auf die Verursachung eines Traumas:
•Non-man-made-Traumata: Diese Traumata werden nicht von Menschen, sondern von äußeren Ereignissen wie z. B. durch einen Unfall, eine lebensverkürzende Erkrankung, plötzliche medizinisch letale Ereignisse wie einen Herzinfarkt oder durch Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Blitzschlag verursacht.
•Man-made-Traumata: Die durch Menschen, insbesondere durch Bezugspersonen zugefügten Traumata wie sexuelle oder körperliche Gewalt durch nahe Bezugspersonen, Überfälle, Gewalt und Folter bewirken neben der unmittelbaren Traumatisierung auf der Bindungsebene einen tiefen Vertrauensverlust in Beziehungen. Hier liegt dann meist auch ein sequenzielles Trauma im Bindungssystem vor.
Auch für Verlusttraumata ist die hier angewandte Unterscheidung hilfreich. So sind die traumatisierenden Verluste bei einer Naturkatastrophe wie dem Tsunami an Weihnachten 2004 nicht von Menschen, sondern durch die entfesselten Kräfte der Natur verursacht.
Dabei dürfen wir aber nicht übersehen, dass auch hier – wie bei praktisch allen traumatisierenden Verlusten – Menschen beteiligt sind. So fragen Hinterbliebene nach dem Tsunami, warum es kein Tsunami-Alarmsystem gab oder warum die Hotels so nahe am Ufer gebaut waren. Schließlich überlegen manche Angehörige, ob sie am Tod des nahen Angehörigen nicht mitschuldig sind, weil sie nach Indonesien gefahren waren oder zur Stunde der Katastrophe einen Ausflug an das Meer gemacht hatten. Manche fragen, warum sie ihr kleines Kind in den Flutwellen nicht festhalten konnten, und fühlen sich so unmittelbar schuldig am Tod ihres Kindes.
Insofern sind bei Verlusttraumata aus Sicht der Hinterbliebenen fast immer andere Menschen, oft auch die Hinterbliebenen selbst, involviert, die dieses Trauma kompliziert machen.
•Verlusttrauma als komplexes Man-involved-Trauma: Da bei einem Verlusttrauma meist andere, häufig auch die Hinterbliebenen selbst, involviert, oft sogar kausal verursachend beteiligt sind, können wir von einem komplexen Man-involved-Trauma sprechen, bei dem die Beziehung zwischen dem Verstorbenen und dem Hinterbliebenen durch den traumatisierenden Verlust kompliziert wird. Dies bindet die Hinterbliebenen auf eine komplexe, oft unlösbare und destruktive Weise an den Verstorbenen und seine Traumatisierung bei seinem Sterben.
Merke!
Bei traumatisierenden Verlusten ist die direkte kausale oder indirekte Beteiligung von Menschen praktisch immer ein verstärkender und verkomplizierender Faktor. Deshalb können wir von einem komplexen Man-involved-Trauma sprechen.
Dabei gibt es verschiedene Grade der menschlichen Beteiligung am Verlust bis dahin, dass das Verlusttrauma wie bei einem Mord auch zu einem Man-made-Trauma wird.
Je mehr andere Menschen, der Verstorbene selbst z. B. als Suizidant oder die Hinterbliebenen, am Sterben und Tod beteiligt, mitverantwortlich oder direkt für den Tod des nahen Menschen verantwortlich sind, desto massiver wird der Tod des nahen Menschen als komplexes Man-involved-Verlusttrauma erlebt. Je stärker der Verlust als Man-involved- oder auch als Man-made-Trauma erlebt wird, desto massiver und komplizierter sind die Traumatisierung der Hinterbliebenen und die innere Beziehung zum Verstorbenen, sodass das Verlusttrauma zu einem komplexen Trauma wird.
Wir müssen aber auch den Unterschied zu einem komplexen sequenziellen Man-made-Trauma wie bei sexueller Gewalt oder bei der Folter deutlich machen. Hier gibt es im Unterschied zum Verlusttrauma immer ein ausbeutendes, missbräuchliches, bewusst schädigendes, das Vertrauen vernichtendes Verhältnis zum Opfer, das meist über längere Zeit andauert. Hier wird das Bindungssystem über die Ausbeutung und den Vertrauensmissbrauch massiv und nachhaltig gestört. Bei einem Verlusttrauma wird das Bindungssystem zwar über den plötzlichen Entzug einer wichtigen Bindungsperson und den Abbruch der äußeren Beziehung auch traumatisiert, aber das Wiederfinden einer inneren Beziehung zum Verstorbenen und die Begleitung durch andere Bindungspersonen können das Bindungstrauma mildern. Über die Involvierung von Menschen beim Tod des nahen Menschen wird auch das Bindungstrauma komplex, aber deutlich weniger massiv als bei einem Bindungstrauma durch sexuelle oder körperliche Gewalt über längere Zeit. Hier wird das Bindungssystem durch die Abhängigkeit vom Täter einerseits und das dadurch entstehende Misstrauen gegenüber Menschen andererseits fundamental gestört. Insofern kann man mit aller Vorsicht sagen, dass die Therapie eines komplexen Man-made-Traumas über längere Zeit wie beim sexuellen Missbrauch schwieriger zu behandeln ist als ein prolongiertes Man-involved-Verlusttrauma.
2.5 Interventionen: Die Diagnostik der akuten Traumareaktionen
In diesem Schritt, der meist im zweiten Gespräch stattfindet, greifen wir nun die von den Betroffenen berichteten traumatisierenden Erfahrungen in der Verlustsituation und die dabei entstandenen peritraumatischen Reaktionen auf oder thematisieren sie von unserer Seite aus.
•Benennen oder Erfragen der Traumareaktionen: Ausgehend von unserem Wissen über die Abläufe des Sterbens und Todes des nahen Menschen, können wir auf verschiedene peritraumatische Erfahrungen wie das Numbing oder die Derealisierung zurückschließen und diese dann entsprechend erfragen oder von uns aus direkt, aber einfühlsam benennen.
•Anerkennen der Traumareaktionen: Wir bestätigen die beschriebenen Traumareaktionen als zu einem Verlusttrauma gehörig und validieren sie damit. Wir beschreiben sie als Reaktionen, die versuchen, mit dem Schrecklichen umzugehen.
•Normalisieren der Traumareaktionen: Die Traumareaktionen werden in dem Sinne normalisiert, dass ein traumatisierender Tod eines nahen Menschen auch bei anderen Menschen dieselben Reaktionen ausgelöst und bewirkt hätte. Sie werden als allgemein menschliche Reaktionen beschrieben, die wir mit allen Menschen teilen.
•Angemessenheit der Reaktion würdigen: Die Traumareaktionen werden als angemessene Reaktion auf das, was mit dem Verstorbenen (!) und mit den Hinterbliebenen geschehen ist, gewürdigt. Sie sind Ausdruck des Schrecklichen und Unbegreiflichen, das dem nahen Menschen und damit den Hinterbliebenen widerfahren ist.
•Erklären der Traumareaktionen: Wir beschreiben die Traumareaktionen als unwillkürliche Reaktion des Organismus, die deshalb auch nicht willentlich steuerbar oder kontrollierbar sind. Wir erklären knapp und auf einfache Weise die Reaktionen des Kampf- und Fluchtsystems und des Bindungssystems.
•Würdigen der Traumareaktionen als Schutz: Wir beschreiben die Traumareaktionen, insbesondere die Dissoziationen, das Freezing und das Numbing, als Schutzmaßnahme des Organismus: Erstens schützen sie vor der schrecklichen Realität des Verlustes, zweitens dämpfen sie den Verlustschmerz und die intensive Trauer. Dabei sucht der Verlustschmerz über intensive Attacken immer wieder Wege, sich zu zeigen und zu äußern.
Wir benennen auch die Nebenwirkungen des Schutzes,