Traumatische Verluste. Roland Kachler
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•Depersonalisierung: Die Hinterbliebenen erleben sich nicht mehr in ihrem eigenen Selbst zu Hause. Dieses erscheint ihnen eigenartig fremd, sodass sie nicht mehr sie selbst sind. Sie stehen neben sich, so als beträfe der Tod des nahen Menschen nicht sie selbst, sondern jemand anderen. Es fühlt sich an, als wären sie eine andere Person, die das soeben Gesehene oder Gehörte nicht selbst erlebt.
•Desomatisierung: Die Hinterbliebenen fühlen sich nicht mehr im Körper und erleben oft eine Out-of-body-Erfahrung, in der sie sich wie von außen sehen. Der eigene Körper ist nicht mehr fühlbar und wird nicht mehr als Ort des eigenen Ichs erlebt. Vielmehr ist er fremd, manchmal verzerrt oder kalt und fühllos.
•Numbing und Deemotionalisierung: Hinterbliebene fühlen in der Verlusttrauma-Situation den Tod des nahen Menschen wie einen Schlag gegen den Kopf oder einen Tritt in die Magengrube. Beides betäubt sie, und es stellt sich das Erleben einer dumpfen Fühllosigkeit ein, das sogenannte Numbing. In dieser Betäubung werden die Gefühle nicht oder nur sehr flach erlebt.
•Freezing und Erstarrung: Hinterbliebene beschreiben, wie ihre Gefühle und alle Körperempfindungen einfrieren. Manchmal stellen sich ein Frieren und ein aus dieser erlebten Kälte entstehendes Zittern ein. Die Muskeln, besonders die Mimik und die Augenmuskeln, verhärten sich bis zur Erstarrung.
•Paralysierung und Lähmung: Die Betroffenen fühlen sich wie gelähmt, so »als hätte ich Blei in den Gliedern«, aber auch das Denken und Sprechen ist gelähmt und blockiert. Oft scheinen die Beine einzuknicken oder wegzusacken, sodass ein Sturz ins Bodenlose droht. Dies kann zur tatsächlichen Ohnmacht führen.
•Unwillkürliches und automatisches Funktionieren: Die meisten Betroffenen funktionieren in der traumatisierenden Verlustsituation wie im Autopiloten. Scheinbar unberührt können sie handeln und funktionieren. Sie reagieren völlig rational und können die situativen Herausforderungen bestens bewältigen. Hier setzen lange eingeübte Handlungsroutinen als Notfallprogramme ein, die ohne kognitive Reflexion ablaufen können. Die Hinterbliebenen erscheinen von außen gesehen als sehr stark. Später allerdings bricht der Verlustschmerz diesen Funktionsmodus auf, sodass dann die durchbrechenden Emotionen oft zu einem überraschenden Kollaps führen.
•Bizarres und stereotypes Verhalten: Bisweilen scheinen die unwillkürlichen Handlungsmuster nicht zur akuten Verlustsituation zu passen. Manche Betroffenen lachen bei der Mitteilung der Todesnachricht oder wollen deren Überbringer aus der Wohnung werfen. Damit scheint der Organismus den Verlustschmerz abzuwehren und ihn in sein Gegenteil zu verkehren. Oft wird er auch in scheinbar unpassendes stereotypes Verhalten umgesetzt, wenn Hinterbliebene in Gegenwart des Krisenteams beispielsweise beginnen zu putzen oder die Zeitungen zu ordnen.
•Analgesie und Hyperalgesie: Die Ausschüttung insbesondere der Endorphine sorgt dafür, dass der Verlustschmerz zunächst nicht gespürt, sondern analgetisiert wird. Bricht der Verlustschmerz aber durch, wird dieser intensiv am ganzen Körper erlebt. Hinterbliebene beschreiben, dass ihr ganzer Körper schmerzt und der Körper ganz Schmerz ist. Hinterbliebene erleben also sowohl eine Analgesie als auch eine Hyperalgesie.
•Hypermnesie und Amnesie: Hinterbliebene erinnern häufig sehr genau winzigste Details des Sterbens und des Todes des nahen Menschen. Diese Details werden ins limbische System eingebrannt, sind kaum zu löschen und dominieren immer wieder das Erleben. Anderes dagegen kann aufgrund der Blockade des für die Abspeicherung zuständigen Hippocampus nicht im episodischen Gedächtnis abgespeichert werden oder wird über die Dissoziation abgespalten.
•Zeitverzerrung: Die Zeitwahrnehmung ist in der Verlusttrauma-Situation extrem verzerrt. Die Zeit wird häufig zugleich als in Zeitlupentempo verlangsamt und als beschleunigt erlebt. Häufig scheint sie stillzustehen, oder die Hinterbliebenen erleben sich als aus der Zeit gefallen und zeitlos.
Diese unmittelbaren, in der Verlustsituation auftretenden Reaktionen sind Ausdruck des evolutionsbiologisch angelegten Totstellreflexes als dem letzten Versuch eines Überlebens angesichts einer Situation, in der der nahe Mensch nicht überlebt hat und der mit ihm verbundene Angehörige glaubt, dieses psychisch nicht überleben zu können. Wir können diese Reaktionen auch als Trancereaktionen beschreiben, in denen das wache, reflektierte Bewusstsein weitgehend ausgeschaltet ist. Stattdessen herrscht ein unwillkürliches, vom limbischen System beherrschtes automatisiertes, von der äußeren Wirklichkeit weitgehend abgekoppeltes und damit sich schützendes Erleben vor.
Üblicherweise geht man in der Traumapsychologie davon aus, dass die peritraumatischen, also die unmittelbaren Traumareaktionen nach etwa sechs Monaten abklingen (Maercker 2013). Dies ist aber bei Verlusttraumata so gut wie nie der Fall, da die Traumareaktionen von den Verlust- und Trauerreaktionen immer wieder getriggert werden und damit über lange Zeit erhalten bleiben. Zu den beschriebenen dissoziativen Traumareaktionen kommen in aller Regel weitere Traumafolgen wie Flashbacks oder eine erhöhte Schreckhaftigkeit. Diese längerfristigen Verlusttrauma-Reaktionen lernen wir in Kapitel 4.2 näher kennen.
2.3Das Verlusttrauma als prolongiertes Monotrauma
In der Psychotraumatologie unterscheiden wir verschiedene Arten von Traumatisierungen. Dies hilft uns, die verschiedenen Traumata mit ihrer unterschiedlichen Dynamik zu verstehen:
•Monotraumata: Ein Monotrauma wird durch eine einmalige, zeitlich begrenzte traumatische Erfahrung wie das einmalige Miterleben eines Überfalls oder eines eigenen nicht tödlichen Autounfalls verursacht.
•Sequenzielle Traumata oder Komplextraumatisierung: Hier findet über einen längeren Zeitraum eine wiederholte, fortgesetzte Traumatisierung statt, z. B. die wiederholte körperliche Gewalt des alkoholkranken Vaters gegenüber seinen Kindern oder die Folter in einer mehrjährigen Gefangenschaft.
Ein traumatischer Verlust ist in aller Regel zunächst als Monotrauma zu verstehen, weil der eintretende Tod des nahen Menschen ein singuläres, einmaliges Ereignis darstellt. Allerdings endet damit die Traumatisierung nicht, vielmehr wiederholt sich der traumatische Verlust in der immer wieder erlebten Abwesenheit des Verstorbenen. Letztere wird zwar meist nicht mehr so intensiv erlebt wie das Todesereignis selbst, aber sie stellt aufgrund der eingetretenen Vulnerabilität der Hinterbliebenen eine wiederholte Traumatisierung dar. Dazu kommen sekundäre Verluste, etwa die Distanzierung von bisherigen Freunden oder der Verlust der Vollständigkeit der Familie, die wiederum den Verlust aktualisieren und die Verlusterfahrung verlängern. Damit kommen wir zu einer dritten Kategorie, die zwischen dem einfachen Monotrauma und einem sequenziellen Trauma liegt:
•Verlusttrauma als prolongiertes Monotrauma: Ein Verlusttrauma ist zunächst meist ein einmaliges, auf einen begrenzten Zeitraum bezogenes traumatisierendes Ereignis; insofern können wir von einem Monotrauma sprechen. Allerdings werden dieses Ereignis und die damit verbundenen Traumareaktionen über längere Zeit, meist bis zu 18 Monate nach dem Ereignis, durch die allmähliche Realisierung der Abwesenheit des nahen Menschen und den einsetzenden Verlustschmerz wiederholt. Deshalb sprechen wir von einem prolongierten Trauma. Auch als Bindungstrauma geht das Verlusttrauma auf die einmalige Erfahrung des Verlassenwerdens zurück, wobei das Verlassensein andauert. Deshalb können wir auch von einem prolongierten Monotrauma des Bindungssystems reden.