Traumatische Verluste. Roland Kachler
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1.3Traumatisierende Kontexte von Verlusten
Die oben genannten Kennzeichen bei schweren Verlusten reichen in aller Regel aus, um ein Verlusttrauma bei den Betroffenen zu bewirken. Sehr häufig gibt es aber auch Kontexte beim Sterben und Tod des Angehörigen, die die Traumatisierung der Hinterbliebenen massiv verstärken. Die Mutter im obigen Fallbeispiel 1 erlebt mehrere massiv traumatisierende Situationen, beginnend beim Wahrnehmen der Leblosigkeit des Jungen über das Miterleben der Notfallmaßnahmen, das verzweifelte Warten, die Mitteilung des Todes und schließlich das Auftauchen der Polizei mit ersten Befragungen.
Bei der Arbeit mit traumatisierten Hinterbliebenen müssen wir deshalb die konkreten Umstände des Todes des nahen Menschen und des Miterlebens oder der Mitteilung des Todes erfragen, um deren traumatisierende Wirkung einschätzen zu können:
•Miterleben des Todes des nahen Menschen: Das unmittelbare Erleben des Todes eines nahen Menschen ist in aller Regel massiv traumatisierend, weil sein Sterben über das Mitgefühl direkt am und im eigenen Körper miterlebt wird. Zudem sind hier der eigene Kontrollverlust und die eigene Ohnmachtserfahrung, aber auch Versagensgefühle, den Tod nicht verhindern zu können, besonders stark. So erlebt die Ehefrau, deren Mann in ihren Armen mit einem plötzlichen Herztod zusammenbricht, das Sterben ebenso unmittelbar wie die eigene Hilflosigkeit, ihn nicht mehr retten zu können. Auch die Erfahrung der Todesnähe, manchmal auch der eigenen Todesbedrohung z. B. bei einem Unfall, verstärkt die traumatisierende Wirkung solcher Verlustsituationen.
•Erlebtes oder vermutetes Leiden beim Tod des nahen Menschen: Für viele Hinterbliebene ist das Erleben oder die Vermutung, dass der nahe Mensch bei seinem Sterben leiden musste, unerträglich. Das Leiden des Verstorbenen wird über das Mit- und Einfühlen als eigenes Leiden am eigenen Körper und damit häufig als traumatisierend erlebt.
•Auffinden des Verstorbenen: Meist rechnen die Hinterbliebenen nicht damit, ihren nahen Menschen verunglückt, leblos oder tot vorzufinden, so wie die junge Frau, die ihre jüngere 16-jährige Schwester erhängt im Treppenhaus entdeckt. Sie sinkt auf die Treppen nieder und bleibt lange Zeit in einer totalen Erstarrung, bevor es ihr gelingt, die Notfallnummer in ihrem Handy einzugeben.
In der Auffindesituation wird der verstorbene Mensch meist sehr ausgeliefert, sehr ohnmächtig, manchmal auch entstellt oder in entwürdigenden Situationen vorgefunden. Auch das Schließen des Sarges und das Wegbringen des Leichnams durch das Bestattungsunternehmen kann noch einmal zusätzlich als traumatisierend erlebt werden.
•Überbringung der Todesnachricht: Obwohl die Todesnachricht in aller Regel professionell von Polizei und Krisendienst oder Notfallseelsorge überbracht und eine Betreuung angeboten wird, ist die Situation für viele Hinterbliebenen doch traumatisierend, weil sie meist völlig unerwartet und ganz plötzlich kommt. Die Hinterbliebenen sind der Wucht der Nachricht, die selbst unfassbar, irreal und absurd klingt, ausgeliefert. Ein Elternpaar wird nachts um vier Uhr aus dem Schlaf gerissen. Vor der Tür stehen die Polizei und der Krisendienst, um den Unfalltod des 20-jährigen Sohnes nach seinem Diskobesuch mitzuteilen.
•Mitbeteiligung am Tod des nahen Menschen: Sind die Hinterbliebenen kausal am Tod des nahen Menschen beteiligt, das heißt für seinen Tod mitverantwortlich, so wirkt das schockartig eintretende existenzielle Schuldgefühl massiv traumatisierend. Ein Mann verliert durch einen Sekundenschlaf die Kontrolle über das Auto und kommt von der Fahrbahn ab, dabei stirbt das befreundete Ehepaar im Fond des Wagens. Noch an der Unfallstelle bekommt er deren Tod mit und versinkt in einer Überflutung von Scham und Schuld, um dann mit dem Wunsch, auf der Stelle ebenfalls sterben zu wollen, zu erstarren.
•Nachfolgende Interventionen beim Tod des Angehörigen wie polizeiliche Befragungen: Immer wieder werden Hinterbliebene unmittelbar nach dem Tod des nahen Menschen befragt oder zur Identifizierung des Verstorbenen herangezogen. Diese Prozeduren werden oft als völlig unpassend und überfordernd, manchmal auch als kränkend erlebt. Ein Vater kann nicht einschlafen, weil jeden Abend das Bild von der Identifizierung seines verstorbenen Sohnes auftaucht, der in einem abweisenden, kahlen Kühlraum aufgebahrt war.
•Beschlagnahmung des Leichnams: Wird der Leichnam des verstorbenen nahen Menschen z. B. bei einem Unfall oder Suizid unmittelbar nach dem Tod beschlagnahmt, wird er den Hinterbliebenen entzogen. Sie können nicht die so wichtige unmittelbare Nähe zum Verstorbenen erleben, vielmehr ist er für sie fern, und sein Tod wird noch irrealer.
•Großschadensereignisse mit Präsenz der Öffentlichkeit: Stirbt ein naher Mensch bei einem Großschadensereignis wie bei der Love-Parade in Duisburg, verstärken die mediale Berichterstattung und häufig auch die Präsenz von Presse das traumatische Verlustereignis, zudem sind die Hinterbliebenen oft der Neugier durch das Umfeld ausgesetzt. Wird der Tod eines nahen Menschen bei einem Großschadensereignis selbst miterlebt, intensivieren das meist auftretende Chaos und die massiven Reize der Rettungsaktionen das Verlusttrauma (Müller-Lange, Rieske u. Unruh 2013; Hausmann 2016).
•Unklare Wartesituationen beim Sterben des nahen Menschen: Nicht selten müssen wie im Fallbeispiel 1 Angehörige in oder vor der Klinik auf die Nachricht über den Zustand des schwer verunglückten nahen Menschen warten. Sie befinden sich dabei in einem extrem spannungsvollen, ohnmächtigen und deshalb traumatisierenden Zustand zwischen einer verzweifelten Hoffnung und einer zerreißenden Angst vor einer möglichen Todesnachricht.
•Abgebrochene oder nicht zugelassene Abschiedsrituale: Schwere Verluste, bei denen wie in der Covid-19-Krise die Beziehung abgebrochen wurde bzw. keine persönliche Begleitung beim Sterben möglich ist, wirken häufig traumatisierend, besonders auch wegen der Schuldgefühle gegenüber dem Verstorbenen. So muss die Familie wegen der Corona-Hygienemaßnahmen draußen auf den Treppenstufen des Krankenhauses sitzen, während der Vater einige Meter weiter allein in einem Krankenzimmer stirbt.
In den traumatisierenden Kontexten werden immer auch Auslösereize, sogenannte Trigger konditioniert, die dann später entweder die Traumareaktion oder Verlustschmerz-Reaktion auslösen. Diese Trigger sind oft Aspekte aus der Verlusttrauma-Situation, z. B. der Schrei des sterbenden nahen Menschen, sein Gesichtsausdruck, das von ihm getragene Kleidungsstück, der Ton der Sirene oder das Blaulicht, oft aber auch kleinste, scheinbar nebensächliche Aspekte wie der Geruch im Vorraum der Intensivstation, die Brille des Notarztes oder die Knöpfe an der Uniform der Sanitäter.
Merke!
Traumatisierende Kontexte bei einem Verlust verstärken in aller Regel die Traumatisierung und sind Teil eines Verlusttraumas. Zudem werden in den traumatisierenden Kontexten Trigger für traumatische Trauerreaktionen konditioniert.
1.4Traumatisierende Verluste als schreckliche Überwältigungs- und Vernichtungserfahrung
Treffen mehrere der genannten Merkmale eines traumatisierenden Verlustes und traumatisierende Kontexte beim Tod des nahen Menschen zusammen, dann setzt bei den Betroffenen ein massives Traumaerleben ein, das sich im Wesentlichen in fünf große Erlebensbereiche zusammenfassen lässt (Hanswille u. Kissenbeck 2010; Peichl 2012; van der Kolk 2019):
•Erschrecken und Entsetzen: Für die Betroffenen