Traumatische Verluste. Roland Kachler
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Remseck bei Stuttgart
Roland Kachler
1Was sind traumatische Verluste?
Fallbeispiel 1: Der sinnlose Tod eines Zweijährigen
Bei dem zweijährigen Lars wird in der Kinderklinik routinemäßig eine zunächst komplikationslose Darmspiegelung durchgeführt. Die Mutter bleibt in der darauffolgenden Nacht bei ihrem Sohn in der Klinik. Sie bemerkt, dass es ihrem Sohn schlecht geht und dass er wohl Fieber hat. Sie informiert mehrmals die Pflegekräfte, die ihr aber versichern, dass alles in Ordnung sei. Als dann auf weiteres Drängen der Mutter die diensthabende Ärztin kommt, liegt der Junge schon leblos in seinem Bettchen und reagiert nicht mehr. Die Mutter steht wie erstarrt daneben und nimmt schon nicht mehr richtig wahr, wie nun die Ärztin die Notfallmaßnahmen in Gang setzt. Der Junge kommt auf die Intensivstation, während die Mutter und der inzwischen gerufene Vater draußen vor dem Krankenhaus voller Verzweiflung warten. Sie sehen, wie der Oberarzt und der Chefarzt in die Klinik hasten. Ihre Ohnmacht und ihr Entsetzen werden immer größer. Nach zwei Stunden werden sie zum Chefarzt gerufen, der ihnen den Tod ihres Sohnes mitteilt. Die Mutter bricht schreiend zusammen, wird erst medizinisch und dann von der Klinikseelsorge betreut. Der Vater ist voller Wut und informiert noch aus der Klinik die Polizei, die dann in die Klinik kommt und mit den ersten Befragungen beginnt. Bei der angeordneten Obduktion stellt sich heraus, dass bei der Darmspiegelung der Darm des Jungen durchstoßen wurde und er letztlich an einer Sepsis verstarb.
In diesem Beispiel zeigen sich die verschiedensten Aspekte eines schweren traumatischen Verlustes. Der plötzliche, völlig unerwartete Tod eines geliebten kleinen Kindes, das Miterleben seines Leidens, die Erfahrung einer eigenen überwältigenden Ohnmacht und die weiteren Situationen, von der Eröffnung der Todesnachricht bis zu Bestattung, sind massiv traumatisierend. Beide Eltern werden zu mir zur Trauerarbeit überwiesen. Doch es geht hier offensichtlich nicht nur um eine Trauerbegleitung, sondern auch um die Arbeit mit dem Trauma und seinen Folgen wie dem Schock, dem Betäubt- und Erstarrtsein und den immer wieder einbrechenden Schreckensbildern vom Tod des Jungen. Zugleich brechen immer wieder intensivste Verlustschmerz-Attacken durch, die sich im Schreien und in Weinanfällen besonders bei der Mutter zeigen. Und keinesfalls übersehen werden dürfen die intensiven Gefühle der Liebe der beiden Eltern zu ihrem Jungen, die Sehnsucht nach ihm und das Mitleiden mit ihm. Fragen insbesondere der Mutter nach dem Warum des Todes des Kindes, nach der eigenen Mitschuld, und das Erleben der Sinnlosigkeit, der Ungerechtigkeit und der Willkürlichkeit des Todes brechen immer wieder auf. Eine intensive, lange Verlusttrauma- Psychotherapie für den verstorbenen Jungen und für die Eltern beginnt. Für solche und andere traumatischen Verluste brauchen wir als Berater und Psychotherapeutinnen ein neues Verständnis der Traumatisierungs- und Trauerprozesse und natürlich viele konkrete Handlungsmöglichkeiten für die traumatisierten und trauernden Hinterbliebenen.
1.1Eine andere Traumapsychologie und eine andere Trauerpsychologie
Viele Verluste werden von den Hinterbliebenen als traumatisierend erlebt. Wir sprechen dann von einem traumatisierenden oder traumatischen Verlust (Thompson, Cox a. Stevenson 2017; Carpenter a. Redcay 2019). Die damit verbundene Trauma- und Verlustreaktion bezeichnen wir als Verlusttrauma. Dieses ist mit einer massiven Traumareaktion verbunden, die einerseits den Reaktionen bei anderen Traumatisierungen gleicht, sich andererseits aber auch von diesen fundamental unterscheidet.
Deshalb brauchen wir ein neues traumapsychologisches Verständnis des Verlusttraumas. Die Psychotraumatologie eines Verlusttraumas muss ganz neu aufgestellt werden!
Dies wird häufig übersehen, sodass viele Trauerbegleitungen und -beratungen die Traumareaktion übergehen und versuchen, bei der Trauer einzusetzen. Nach einem traumatischen Verlust kommen die Betroffenen jedoch zuerst als Traumatisierte, die zugleich spüren, dass sie vom Trauma betroffene Trauernde sind, und erst später dann im eigentlichen Sinne zu Trauernden werden. Deshalb spreche ich in diesem Buch meist von Hinterbliebenen, weil diese Traumatisierte und Trauernde sind.
Ebenso sind die Trauerprozesse nach einem traumatischen Verlust ganz andere, weil sie von den Traumareaktionen massiv beeinflusst sind. Doch nicht nur die unmittelbare Verlust- und Trauerreaktion, sondern auch die Beziehung zum Verstorbenen1 sieht nach einem Verlusttrauma anders aus. Nach meinem Verständnis ist die Beziehung zum Verstorbenen ein zentraler Teil jedes Trauerprozesses, der hypnosystemisch verstanden immer auch ein Beziehungsprozess ist. Die Grundlage dieses Buches ist der von mir entwickelte hypnosystemische Traueransatz, in dem die innere Beziehung zum Verstorbenen ein wesentlicher Teil eines Trauer- und (!) Beziehungsprozesses ist (Kachler 2017; 2018; 2019). Deshalb brauchen wir auch ein neues Trauerverständnis für die Trauer- und (!) Beziehungsreaktion in einem Verlusttrauma.
Wir können also sagen, dass das Trauma bei einem Verlust den Verlustschmerz und die Trauer massiv beeinflusst und dass umgekehrt der Verlust die Dynamik einer Traumatisierung verändert. Zugleich verändert die Traumatisierung im Verlust auch die innere Beziehung der Hinterbliebenen zum Verstorbenen nach dessen Tod.
Merke!2
Die Traumatisierung bei einem schweren Verlust beeinflusst massiv die Trauer- und Beziehungsreaktion. Die Trauer- und Beziehungsreaktion gibt umgekehrt auch der Traumareaktion eine andere Dynamik.
Ein Verlusttrauma setzt sich zusammen erstens aus dem Verlust eines nahen, geliebten und existenziell wichtigen Menschen, der deshalb als schwerer Verlust erlebt wird, zweitens aus einem die Hinterbliebenen und den Verstorbenen (!) verletzenden, überwältigenden und damit traumatisierenden Tod und drittens aus den traumatisierenden, situativen Kontexten für die Hinterbliebenen bei diesem Verlust. Schließlich umfasst das Verlusttrauma viertens eine komplex miteinander interagierende Trauma-, Trauer- und Beziehungsreaktion der Hinterbliebenen. Die Art der Trauer- und Beziehungsreaktion hängt neben den traumatisierenden Aspekten auch von der bisher gelebten Beziehung der Hinterbliebenen zu ihrem verstorbenen nahen Menschen ab. Die Intensität der Trauma- und Trauerreaktion wird zudem von der Biografie, den Ressourcen und verfügbaren Abwehrmechanismen der Hinterbliebenen beeinflusst. Trotz dieser individuellen Kriterien bei den Hinterbliebenen ist ein schweres Verlusttrauma wie alle Traumata gerade auch dadurch definiert, dass es von der Mehrzahl der Betroffenen als überwältigend, bedrohlich, vernichtend und katastrophal, mithin also als traumatisierend erlebt wird (Maercker 2013).
Merke!
Ein Verlusttrauma umfasst den schweren Verlust eines geliebten Menschen, die Traumatisierung des Verstorbenen (!) und der Hinterbliebenen, die erlebten traumatisierenden Verlustsituationen und die sich gegenseitig beeinflussenden Trauma-, Trauer- und Beziehungsreaktionen der Hinterbliebenen.
1.2Kennzeichen traumatisierender Verluste
Der Tod eines nahen Menschen hat bei den meisten betroffenen Hinterbliebenen in aller Regel hohe traumatisierende Wirkung, wenn folgende Kriterien zutreffen:
•Existenzielle