Das Günter-Prinzip. Stefan Frädrich
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Читать онлайн книгу Das Günter-Prinzip - Stefan Frädrich страница 7
Nun schicken Sie Ihre Familie weiter: »Wir treffen uns später, ich ruhe mich hier eine Weile aus.« Dann stellen Sie fest: Um Sie herum sind lauter Menschen, die alle in eine Richtung schauen. Warum? Da! Fünf Meter vor Ihnen: der Tigerkäfig. Darin sehen Sie eine große Katze, zwei Meter lang, quer gestreift. Die läuft von links nach rechts und von rechts nach links. Und dann geht die Käfigtüre auf, der Tiger kommt raus und direkt auf Sie zu. Na? Was werden Sie jetzt augenblicklich machen, außer in die Hose? Keine Frage: Sie werden aufstehen und Sie werden laufen – so wie alle anderen um Sie herum auch! Und zwar augenblicklich! Und es wird Sie dabei in keiner Weise stören, dass Sie vorher schmerzende Oberschenkel hatten. Sie werden sich nicht fragen: »Hm, passt das jetzt in meinen Trainingsplan? Was machen da morgen die Laktatwerte?« Oder: »Sieht man, dass beim Laufen mein Popo wackelt?« Das wird Sie alles nicht stören, garantiert. Sie werden laufen, laufen, laufen.
Die spannende Frage ist jetzt aber: Wie schnell müssen Sie laufen? Also rein objektiv betrachtet. Na? Schneller zu sein als der Tiger werden Sie nicht schaffen, keine Chance. Schneller als die anderen? Nahe dran, aber auch noch nicht ganz richtig. Nein, Sie müssen doch nur schneller laufen als der Langsamste! Klar, oder? Denn wenn der Langsamste gefressen wird, ist der Tiger zu beschäftigt, um Ihnen weiter hinterher zu rennen. Sie schalten also wieder gemütlich einen Gang zurück und sagen empört: »Tierpfleger, schau mal! Darf der das?«
Immer erst warten, bis es wehtut? Ganz ehrlich: Kennen Sie diese Art der Motivation? Einfach warten, bis es anfängt, richtig wehzutun, und dann machen wir selbst die unangenehmsten Dinge freiwillig: einen ungeliebten Job kündigen, obwohl noch kein neuer in Aussicht ist. Eine kaputte Beziehung beenden, obwohl man aneinander gewöhnt ist. Auf die morgige Prüfung lernen, obwohl wir dafür den Fernseher ausschalten müssen. Wir lassen die Umstände eine Entscheidung treffen. Und ziehen diese dann tapfer durch.
Leider nur ist der Schaden dann häufig schon größer als er hätte sein müssen: Wir haben jahrelang verpennt, uns nach Jobalternativen umzusehen, und trauen uns fast nichts mehr zu. Wir haben alle Energie in die Ex-Beziehung gesteckt und stehen nun ohne Freunde da. Und den Lernstoff schaffen wir auch nicht mehr, müssen uns also für die Nachprüfung anmelden. Doch die ist zum Glück erst im nächsten Jahr. Also schnell wieder zurück vor den Fernseher!
Blöd, oder? Können wir nicht einfach freiwillig in Schwung kommen, ohne dass es dazu erst wehtun muss? Können wir Veränderungen nicht angehen, bevor das Kind in den Brunnen fällt? Eigentlich schon. Nur ist auch freiwillige Veränderung mit einem gewissen Aufwand verbunden, einem gewissen Maß an Schmerz also. Und den sollten wir auf uns nehmen wollen, damit wir mit ihm konstruktiv umgehen können. Doch bevor wir uns freiwillig auf eine Aufgabe konzentrieren, lenken wir uns lieber eine Weile mit Telefonaten, Internetsurfen oder Spielen ab. Bevor wir einer Mitarbeiterin direkt sagen, dass sie Murks gebaut hat, befürchten wir Ärger mit der Gleichstellungsbeauftragten und schweigen lieber. Und bevor wir uns den Stress antun, nach dem Essen keine mehr rauchen zu dürfen, hören wir erst irgendwann in der Zukunft mit dem Quarzen auf.
Erst wenn uns die Aufgabe beinahe physisch in den Hintern tritt, kriegen wir selbigen hoch und blenden sämtliche Ablenkungen aus. Erst wenn die Mitarbeiterin den Fortbestand der Firma bedroht, rückt die nüchterne Leistungsbeurteilung ins Blickfeld.
Und erst wenn sich im Röntgenbild ein Schatten auf der Lunge zeigt, nehmen wir uns ernsthaft vor, unseren Espresso künftig ohne begleitenden Krebsstängel zu schlürfen. Freilich rennen wir auch dann erst mal zum Hypnotiseur oder in die Apotheke, damit man uns die Entzugserscheinungen wegmacht – selbst wenn sie gar nicht spürbar sind.
Unsere Schmerzvermeidungskultur Besonders angenehm an der allgemeinen Schmerzvermeidung: Weil ohnehin fast jeder Schmerz und Anstrengung aus dem Weg geht, schaut man uns wegen unserer eigenen Leistungsverweigerung nicht einmal schräg an! Wir leben in einer allgemein anerkannten Schmerzvermeidungskultur und bestätigen uns alle gegenseitig, dass es völlig okay ist, erst dann richtig loszulegen, wenn wir es müssen: Lernen? Erst kurz vor der Prüfung! Malochen? Erst kurz vor der Insolvenz! Alles andere erscheint nicht zumutbar. Wir sind doch keine Masochisten! Und sobald der akute Schmerz, der akute Druck dann wieder vorbei ist, machen wir wieder weiter wie zuvor: Ist die Aufgabe erledigt, gehen wir augenblicklich wieder zur Zerstreuung über – konzentriert nachdenken ist zu anstrengend. Ist die Liquidität unserer Firma gesichert, tolerieren wir selbst die größten Hohlköpfe – egal welchen Geschlechts. Und erweist sich der Schatten auf der Lunge als technischer Defekt des Röntgengeräts, klickt auch schon wieder das Feuerzeug – auf diesen überstandenen Schreck brauchen wir erst mal eine Zigarette.
Wir halten es also für normal, kuschelig in Watte gepackt zu leben. Wir meinen, jede kleine Unpässlichkeit für Schmerz halten und sie vermeiden zu müssen. Und erst wenn die jeweiligen Erträglichkeitsschwellen überschritten sind, haben wir einen sozial akzeptierten Grund fürs Handeln: »Was sein muss, muss sein!« Kein Wunder also, dass wir oft erst dann funktionieren, wenn wir es müssen! Wir haben es so gelernt. Und wir erfahren es jeden Tag aufs Neue, wenn wir uns mit anderen Menschen (und Schweinehunden) umgeben.
Langsamer Schmerz erhöht die Leidensfähigkeit Na, klingt das logisch? Möglich. Aber es ist völlig unlogisch! Denn andererseits ertragen wir heroisch die unangenehmsten Situationen, nur um uns nicht verändern zu müssen! Unsere Leidensfähigkeit ist nämlich enorm, wenn sich Schmerzen nur langsam steigern. Wie beim Frosch im Wasser: Wird es sprunghaft wärmer, registriert Kermit die Gefahr und springt ins Trockene. Sonst findet die Muppet Show ohne ihn statt. Steigt die Temperatur aber nur langsam, riskiert er, gekocht zu werden, ohne es zu merken. Und Miss Piggy droht der schmerzhafte Verlust ihres geliebten Punching Ball.
Genauso ist es bei uns: Es ist unglaublich, was wir alles ertragen können, wenn sich Unangenehmes nur langsam genug entwickelt! Identitätskrisen, Übergewicht, Beziehungsdramen – nichts scheint uns etwas anhaben zu können. Hauptsache nur, die Katastrophe entwickelt sich peu à peu. Dann leiden wir tapfer vor uns hin und merken es oft nicht einmal. Wir sind blind für unsere Dauerschmerzen. Und wieder scheinen wir erst darauf warten zu müssen, dass etwas richtig wehtut, bevor wir uns verändern. Das ganze System muss uns erst so richtig vor die Füße fallen, damit wir reagieren und gegensteuern: Depressionen, Diabetes, der Nachbar im Kleiderschrank. »Los jetzt, tu was dagegen!«, sagt nun selbst Günter. Obwohl sich so manche Katastrophe durch rechtzeitiges beherztes Handeln vermeiden ließe …
Wer die eigenen Gefühle selbst steuert, steuert sein Leben
Halten wir also fest: Sowohl das kurzfristige Lustprinzip als auch das Warten auf schmerzhaften Druck stößt an Grenzen. Es scheint uns oft am wirklichen Vorankommen zu hindern, wenn wir uns nur von unseren Gefühlen steuern lassen. Wir leben dann zwar einigermaßen sicher und bequem, werden aber auch übervorsichtig und faul.
Wäre es demnach nicht viel besser, wenn wir unsere Gefühle steuern könnten? Dann hätten wir indirekt auch einen Antrieb für uns selbst. Sie merken: Wir kommen langsam zum Thema »emotionale Intelligenz« – die Damen werden etwas damit anfangen können. Wir bewegen uns weg vom reinen Reiz-Reaktions-Modell und weiter zum bewussten Wahrnehmen und Interpretieren unserer Gefühle (und der anderer). Denn wer das draufhat, kann sein Leben viel unabhängiger steuern (und mit anderen besser klarkommen): Wer die richtige Brille aufsetzt und die richtige Perspektive einnimmt, kann Gefühle so interpretieren, dass sie fast immer nützlich sind. Sogar die unangenehmen.
Auch schlechte Gefühle sind schließlich für etwas gut. Etwa falls sie lange anhalten. Dann helfen sie uns nämlich, Irrwege als solche zu erkennen: Nein,