In Nacht und Eis. Fridtjof Nansen
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Читать онлайн книгу In Nacht und Eis - Fridtjof Nansen страница 11
Am 5. Juni machte ich mit Sverdrup eine Schneeschuhfahrt nach Süden. Ich schrieb: »Das Eis hat sich verändert, aber nicht zum Besseren; die Oberfläche ist zwar hart und gut, aber die Eisketten sind sehr unangenehm und überall sind Spalten und Hügel. Eine Schlittenexpedition würde auf solchem Eis schlecht vorwärtskommen.«
Am 13. Juni heißt es im Tagebuch: »Das Eis wird mit jedem Tag weicher. Rund um uns herum bilden sich große Wasserpfützen auf den Schollen. Kurz, die Oberfläche ist abscheulich; die Schneeschuhe brechen überall durch ins Wasser. Man würde heute an einem Tag nicht weit kommen, wäre man gezwungen, nach Süden oder Westen aufzubrechen. Jeder Ausgang ist verbaut. Wir sitzen hier fest.
Manchmal kommt es mir ziemlich merkwürdig vor, dass keiner unserer Leute besorgt ist, dass wir weiter und immer weiter nach Norden treiben, ins Unbekannte hinein; keiner zeigt eine Spur von Furcht. Alle sehen düster aus, wenn es nach Süden oder zu weit nach Westen geht, und sie strahlen vor Freude, wenn wir nach Norden treiben, je weiter, desto besser.
Und doch kann keiner der Tatsache gegenüber blind sein, dass es sich um Leben und Tod handelt, wenn jetzt das eintreten sollte, was uns fast alle prophezeit hatten. Sollte das Schiff wie die ›Jeannette‹ vom Eis zermalmt werden und in die Tiefe sinken, ohne dass wir genügend Vorräte retten, um die Drift auf dem Eis fortzusetzen, dann würden wir den Kurs nach Süden zu richten haben und unser Schicksal würde kaum zweifelhaft sein.
Den Leuten von der ›Jeannette‹ erging es schlecht genug, aber ihr Schiff sank auf 77° n.Br., während für uns das nächste Land vielmal mehr als das Doppelte entfernt ist, von dem nächsten bewohnten Land gar nicht zu reden.
Von unserem Standort bis Kap Tscheljuskin sind es jetzt mehr als 550 Kilometer, und von dort nach einer bewohnten Gegend ist es noch viel weiter. Aber die ›Fram‹ wird nicht erdrückt werden. Niemand glaubt daran. Es geht uns wie dem Kajakruderer, der sehr wohl weiß, dass ein einziger falscher Ruderschlag genügt, ihn zum Kentern zu bringen und in die Ewigkeit zu schicken; ruhig aber setzt er seinen Weg fort, weil er weiß, dass dieser falsche Schlag nicht kommen wird.«
Sonntag, 12. August. Ein herrlicher Abend. Ich machte einen Spaziergang zwischen den Rinnen und Eishügeln; es war wunderschön ruhig und windstill, kein Laut zu hören außer den Wassertropfen von einem Eisblock. Die Sonne steht niedrig im Norden und über uns ist der blassblaue Himmelsdom mit goldverbrämten Wolken. Der tiefe Frieden der Einsamkeit. Wie kommt es, dass ich mich zuzeiten über die Einsamkeit beklage? Mit der Natur um sich, mit Büchern und Studien kann man sich doch nie ganz allein fühlen!
Dienstag, 21. August. 81°4,2’ n.Br. Seltsam. Kaum eine Veränderung!
Wir treiben etwas nach Norden, dann etwas nach Süden und bleiben fast immer auf demselben Fleck. Ich glaube aber, wie ich stets, schon ehe wir die Reise antraten, geglaubt habe, dass wir drei Jahre, genauer drei Winter und vier Sommer, nicht mehr und nicht weniger, fortbleiben und von diesem Herbst an in ungefähr zwei Jahren die Heimat wieder erreichen werden.3 Der bevorstehende Winter wird uns, wenn auch langsam, weitertreiben; er kündigt sich bereits an. Letzte Nacht hatten wir 4 Grad Kälte.
Sonntag, 26. August. Es scheint beinahe, dass der Winter schon gekommen ist. Die Kälte hat sich seit Donnerstag im Durchschnitt zwischen –4°C und –6°C gehalten. In der Temperatur gibt es hier nur geringe Veränderungen. Wir können damit rechnen, dass sie von jetzt ab regelmäßig sinkt, obwohl es für den Winteranfang noch ziemlich früh ist. Alle Tümpel und Rinnen sind mit Eis bedeckt, das schon dick genug ist, um einen Mann auch ohne Schneeschuhe zu tragen.
Ich war auf Schneeschuhen draußen. Angenehmer Weg, gutes Fortkommen überall; einige Rinnen hatten sich etwas erweitert oder waren zusammengedrückt worden; das neue Eis war nur dünn und bog sich unangenehm unter den Schneeschuhen, trug mich aber. Zwei Hunde brachen ein. Es hatte auch ziemlich stark geschneit, sodass es schönen Neuschnee gab. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, werden wir im Winter ausgezeichnet Ski laufen können. Denn es ist Süßwasser, das auf der Oberfläche der Rinne gefriert, es scheidet kein Salz aus. Auf Schnee mit Salz geht man ebenso schlecht wie auf Sand.
Mittwoch, 29. August. Frischer Wind rasselt und pfeift in der Takelung. Eine belebende Veränderung ohne Zweifel! Es herrscht ein Schneetreiben, als ob wir mitten im Winter wären. Schönes Augustwetter! Aber wir treiben wieder nach Norden und das ist auch sehr notwendig! Gestern war unsere Breite 80°53,5’.
Heute Abend arbeitete ich im Raum an meinem neuen Bambuskajak, das der Gipfel der Leichtigkeit wird. Pettersen half mir. Wir unterhielten uns eine Weile über allgemeine Dinge und er meinte, dass wir in der »Fram« ein gutes Heim besäßen, weil wir alles hätten, was wir haben wollten; sie sei ein verteufeltes Schiff, jedes andere würde längst platt gedrückt worden sein. »Wenn ich«, sagte er, »alle die Hilfsmittel betrachte, die wir vorbereitet haben, wie z.B. diese neuen Kajaks, dann fürchte ich mich aber auch nicht, müssten wir das Schiff eines Tages verlassen!«
Dann sprachen wir noch darüber, was wir tun würden, wenn wir nach Hause kämen.
»Was Sie anbetrifft, so werden Sie ohne Zweifel nach dem Südpol reisen!«, meinte er.
»Und Ihr«, erwiderte ich, »wollt Ihr die Hemdsärmel aufkrempeln und Eure alte Beschäftigung wieder beginnen?«
»So wird’s wohl werden! Aber, weiß Gott, erst muss ich eine Woche Ferien haben! Nach einer solchen Reise muss ich sie unbedingt haben, ehe ich wieder zum großen Schmiedehammer greife!«
3 Auf den Tag genau zwei Jahre später lief die »Fram« Skjervøy an der Küste von Norwegen an.
DER ZWEITE HERBST IM EIS
Der Sommer war also vorüber. Unser zweiter Herbst begann. Wir hatten uns jetzt mehr an die Geduldsproben gewöhnt, die uns das Leben im öden Treibeis abverlangte. Die Zeit verging uns rascher. Außerdem war ich auch mit neuen Plänen und Vorbereitungen beschäftigt.
Ich habe schon erwähnt, dass wir im Lauf des Sommers alles für den Fall bereit machten, dass wir über das Eis heimkehren müssten. Wir hatten sechs Doppelkajaks gebaut, die Schlitten waren in Ordnung und es war sorgfältig berechnet worden, wie viel Nahrungsmittel, Kleidung, Brennstoff usw. wir mitführen mussten. Aber ich hatte in der Stille auch meine eigene Expedition nach Norden vorbereitet. Außer wenigen Worten zu Sverdrup hatte ich noch zu niemandem von meinem Plan gesprochen, da ich ja nicht wusste, wie weit nördlich die Drift uns bringen würde, und da sich vor dem Frühjahr noch vielerlei ereignen konnte.
Inzwischen ging das Leben an Bord seinen gewohnten Gang.
Donnerstag, 6. September. 81°13,7’ n.Br. Bin ich heute fünf Jahre verheiratet? Voriges Jahr, als die Eisfesseln bei der Taimyr-Halbinsel zerbarsten, war es ein Tag des Sieges. Jetzt ist kein Gedanke an Sieg. Und doch erscheint mir die Zukunft nicht bang und düster. Ist es möglich, dass am nächsten 6. September jede Fessel gesprengt ist und wir beisammensitzen und von unseren Fahrten im fernen Norden und von all unserem Verlangen plaudern wie von etwas, das einmal gewesen ist und nie wieder sein wird? Und was spricht dagegen, dass das im nächsten Jahre geschieht? Weshalb soll dieser Winter die »Fram« nicht nach Westen an einem Punkt im Norden von Franz-Joseph-Land bringen? …
Dann ist meine Zeit gekommen und ich mache mich mit Hunden und Schlitten auf nach Norden. Mir klopft das Herz vor Freude bei dem Gedanken daran. Der Winter wird mit den Vorbereitungen für eine solche Expedition