In Nacht und Eis. Fridtjof Nansen
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Und doch, und doch! Polarnacht, du bist wie ein Weib, ein wunderbar liebliches Weib! Du besitzest die edlen, reinen Züge antiker Schönheit, aber auch ihre Marmorkälte. Auf deiner hohen, glatten Stirn, rein wie der klare Äther, ist keine Spur von Mitgefühl für die kleinen Leiden des verachteten Menschengeschlechts; auf deiner blassen Wange ist keine Spur von Gefühl. Wie müde bin ich deiner kalten Schönheit! Ich will zum Leben zurückkehren. Lass mich als Sieger oder als Bettler heimkehren, mir gilt es gleich! Aber lass mich heimkehren, um das Leben neu zu beginnen! Hier vergehen die Jahre; was bringen sie? Nichts als Staub, trockenen Staub, den der erste Windstoß verweht; an seine Stelle tritt neuer Staub, den der nächste Wind wieder fortfegt. Wahrheit? Weshalb macht man immer so viel aus der Wahrheit? Das Leben ist mehr als kalte Wahrheit und wir leben nur einmal!
Donnerstag, 28. Dezember. Dicht vor der »Fram« hat sich eine neue Rinne gebildet, so breit, dass das Schiff quer darin liegen könnte. Sie hat sich letzte Nacht mit Eis bedeckt, in dem sich heute leichter Druck zeigt. Merkwürdig, wie gleichgültig wir gegen solche Eispressungen sind, die manchem anderen Polarforscher so große Sorge gemacht haben!
Wir haben nichts, aber auch nichts für einen Unfall vorbereitet, keine Kleider in Bereitschaft. Das mag wie Leichtsinn aussehen, in Wirklichkeit ist aber kaum zu erwarten, dass der Eisdruck uns schadet: Wir wissen jetzt, was die »Fram« verträgt.
Stolz auf unser starkes Schiff stehen wir auf dem Deck und beobachten, wie das Eis gegen seine Seiten stößt, hier zermalmt und zerbrochen wird und unter ihm durchgehen muss.
Ich lese gerade die Geschichte von der Expedition Kanes (1853–55). Der Unglückliche! Seine Vorbereitungen waren jämmerlich unzureichend. Fast alle Hunde starben an schlechter Nahrung; alle Leute hatten aus demselben Grund Skorbut, dazu gesellten sich Schneeblindheit, Frostbeulen und allerhand anderes Elend. Kane bekam eine heilige Scheu vor der arktischen Nacht. Er schreibt in seinem Werk: »Ich fühle, dass wir den Kampf ums Dasein unter ungünstigen Umständen führen und dass ein arktischer Tag und eine arktische Nacht den Menschen schneller und ernstlicher altern lassen als ein Jahr irgendwo sonst auf dieser mühseligen Welt.«
An einer anderen Stelle schreibt er, es sei für zivilisierte Menschen unmöglich, unter solchen Lebensbedingungen nicht zu leiden.
Das waren traurige, aber keineswegs vereinzelte Erfahrungen. Ein englischer Polarforscher, mit dem ich mich unterhalten habe, äußerte sich ebenfalls sehr entmutigend über das Leben in den Polargebieten, er war der Meinung, dass Skorbut unvermeidlich und noch keine Expedition ihm entgangen sei. Glücklicherweise bin ich in der Lage zu behaupten, dass diese Ansicht nicht gerechtfertigt ist.
Was mich selbst betrifft, so kann ich sagen, dass die arktische Nacht keinen alternden oder schwächenden Einfluss auf mich ausgeübt hat: Im Gegenteil, ich scheine jünger zu werden. Diese ruhige, regelmäßige Lebensweise bekommt mir außerordentlich gut und ich kann mich keiner Zeit erinnern, in der ich gesünder war, als ich jetzt bin. Ich weiche so sehr von jenen Autoritäten ab, dass ich die Arktis als ein ausgezeichnetes Sanatorium für Fälle von Nervosität und allgemeiner Schwäche empfehlen möchte. Fast schäme ich mich des Lebens, das wir führen, ohne alle jene so düster geschilderten Leiden der langen Winternacht, die von einer arktischen Expedition unzertrennlich sein sollten. Wir werden darüber nichts zu schreiben haben, wenn wir wieder nach Hause kommen.
Dasselbe, was ich von mir gesagt habe, kann ich auch von meinen Gefährten behaupten: Sie sehen sämtlich gesund und wohlgenährt aus und sind es auch. Da ist keins jener blassen, hohlwangigen Gesichter, da ist keine Niedergeschlagenheit. Und wer es bezweifelt, müsste nur das Gelächter im Salon hören und uns beim Kartenspiel zusehen.
Woher sollte auch wohl Krankheit kommen? Bei der allerbesten Nahrung, die so abwechslungsreich ist, dass selbst der Wählerischste ihrer nicht überdrüssig wird; bei guter Wohnung, guter Kleidung, Bewegung in der freien Luft nach Belieben, bei Arbeit, die eher Vergnügen als Anstrengung ist, bei lehrreichen und fesselnden Büchern, Erholung bei Karten-, Schach-, Domino- und Halma-Spiel, bei Musik und Geschichtenerzählen – wie könnte da wohl jemand krank werden? Hin und wieder höre ich eine Bemerkung, dass man vollauf mit dem Leben zufrieden ist. Das ganze Geheimnis liegt in der vernünftigen Anordnung der Dinge.
Was meiner Ansicht nach eine besonders gute Wirkung auf uns ausübt, ist, dass wir alle zusammen in einem Salon leben und alles allen gemeinsam ist. Soviel ich weiß, ist dies das erste Mal, dass ein solcher Versuch gemacht worden ist, er ist sehr zu empfehlen.
Sonntag, 31. Dezember. Letzter Tag des Jahres. Es ist ein langes Jahr gewesen und es hat Gutes und Schlimmes gebracht. Es fing mit Gutem an, es schenkte mir mit Klein Liv ein Glück so neu, so seltsam, dass ich anfangs gar nicht daran glauben mochte. Schwer war dann der Abschied: Seitdem ist mir die ganze Zeit ein einziges, sehnsüchtiges Verlangen gewesen.
Endlich bist du doch abgetan, altes Jahr! Du hast uns nicht so weit gebracht, wie du hättest sollen, und doch hättest du es noch schlimmer machen können, du bist trotz alledem nicht so ganz schlecht gewesen. Sind nicht unsere Hoffnungen und Berechnungen gerechtfertigt worden und treiben wir jetzt nicht gerade da, wo ich es gewünscht und gehofft hatte? Nur eins war verkehrt – ich habe nicht gedacht, dass die Drift in so vielen Zickzackzügen vor sich gehen würde.
Einen schöneren Silvesterabend hätte es nicht geben können. Das Nordlicht erstrahlt in wundervollen Farben und Lichtstreifen über dem ganzen Himmel, namentlich aber im Norden. Tausende von Sternen funkeln zwischen dem Nordlicht am blauen Firmament. Nach allen Seiten dehnt sich das Eis endlos und schweigend in die Nacht hinaus; die reifbedeckte Takelung der »Fram« hebt sich scharf und dunkel gegen den leuchtenden Himmel ab.
Montag, 1. Januar 1894. Es ist schönes, klares Wetter, 38°C unter null.
Ich liege in meiner Koje, schreibe, lese und träume. Es ist immer ein seltsames Gefühl, wenn man zum ersten Mal die Zahl des neuen Jahres schreibt. Dann erst erfasst man die Tatsache, dass das alte Jahr der Vergangenheit angehört, dass das neue Jahr da ist und man bereit sein muss, sich mit ihm herumzubalgen. Wer weiß, was es bringen wird? Gutes und Schlimmes ohne Zweifel, aber meist Gutes, und das kann doch nur sein, dass wir unserem Ziel und der Heimat entgegengehen. Ja, führe uns, wenn nicht an unser Ziel – das würde noch zu früh sein –, so doch wenigstens in seiner Richtung! Stärke unsere Hoffnung, aber vielleicht – nein, kein vielleicht!
Meine wackeren Jungen verdienen Erfolg. In ihren Gedanken herrscht kein Zweifel. Sie vertrauen mir und meinen Theorien. Ein jeder hat sein ganzes Herz darangesetzt nordwärts zu kommen; ich lese es in ihren Gesichtern, es glänzt aus jedem Auge. Wenn wir südwärts treiben, höre ich Seufzer der Enttäuschung, aber auch erleichtertes Aufatmen, wenn es wieder nach Norden geht.
Was aber, wenn ich mich getäuscht habe und sie in die Irre führe? Wir sind die Werkzeuge von Mächten über uns; wir sind unter glücklichen und unglücklichen Sternen geboren. Bis jetzt habe ich unter einem glücklichen Stern gelebt. Soll sein Licht verdunkelt werden? Ich bin nicht abergläubisch, aber ich glaube an meinen Stern.
1 Mit diesem seidenen Sacknetz, das von Booten oder Schiffen nachgeschleppt wird, fängt man die Tiere und Pflanzenorganismen in verschiedenen Tiefen. Wir gebrauchten es während unseres Treibens beständig, versenkten es in verschiedene Tiefen und brachten damit oft reiche Beute herauf.
2 Dieses Phosphoreszieren wird hauptsächlich von kleinen, leuchtenden Krustentieren (Copepoden) verursacht.
FRÜHJAHR UND SOMMER 1894
Sonntag, 14. Januar. Die Zeit verfliegt beinahe schnell und jeden Tag wird es heller. Gestern war das Eis ruhig, heute Morgen aber herrschte an verschiedenen Stellen wieder beträchtlicher