Das Schweigen der Aare. André Schmutz

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Das Schweigen der Aare - André Schmutz

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      »Sagen die Dienstvorschriften nicht auch, dass während dem Dienst über Mittag kein Alkohol getrunken werden darf? Mir ist vorhin die Quittung des Restaurants Anker von heute Mittag auf Ihrem Pult aufgefallen. Dort werden sechs Halbe Bier ausgewiesen. Das wären drei für Sie und drei für Trachsel.«

      »Rechnen kann ich selber! Worauf wollen Sie hinaus, Frau Manaresi?«, fauchte Obermaier. Seine gute Laune hatte sich in Sekundenbruchteilen in Ärger verwandelt. Feindselig blinzelte er Lisa an. Es kostete sie Mühe, weiter die Rolle der gestrengen, pflichtbewussten Polizistin zu spielen.

      »Wenn man die Dienstvorschriften beim Essen großzügig auslegen kann, sollte dies beim Handyorten auch möglich sein«, kombinierte Lisa.

      Obermaier schluckte leer und überlegte fieberhaft. Es passte ihm überhaupt nicht, nach der Pfeife einer Juniorpolizistin zu tanzen. Ihm fiel aber nichts ein, das ihn aus der Affäre retten könnte. Zähneknirschend antwortete er:

      »Für Sie, Kollegin Manaresi, mache ich eine Ausnahme. Schätzen Sie sich glücklich, über Beziehungen zu den richtigen Stellen zu verfügen.«

      Lisa ließ ihm die erneuten Wichtigtuereien durchgehen. Sie war zu ungeduldig und wollte so rasch als möglich Kontakt mit ihrer Schwester herstellen. Leicht ungehalten reichte sie Obermaier einen Zettel mit Alvas Handynummer.

      Eine knappe halbe Stunde später war Obermaier zurück.

      »Tut mir leid. Die Ortung war nicht erfolgreich. Ich vermute, dass das Handy ausgeschaltet ist.«

      Kurz hegte Lisa den Verdacht, dass Obermaier gar keine Ortung durchgeführt hatte. Die Enttäuschung im Gesicht von Zigerli, welcher Obermaier unauffällig gefolgt war, ließ sie innehalten. Mit einem kurzen »Danke« verdrückten sich Lisa und Zigerli aus Obermaiers Büro.

      Inzwischen war es Lisa gewohnt, mit Rückschlägen umzugehen. Es gehörte dazu, immer wieder in einer Sackgasse zu landen. Die Kunst des Ermittelns lag darin, beharrlich zu bleiben und auch Spuren zu verfolgen, welche auf den ersten Blick aussichtslos wirkten.

      Lisa und Zigerli brauchten eine neue Spur. Sowohl auf der Suche nach dem Mörder von Siri als auch auf der Suche nach Alva. Siri konnte niemand mehr helfen, Alva war möglicherweise in Gefahr. Sie beschlossen deshalb, zum Stufenbau zu gehen. An den Ort, an welchem Alva bekanntermaßen zum letzten Mal von anderen Personen gesehen worden war. Es ging bereits gegen Ende des Nachmittags, als die beiden den Eingang des Eventlokals erreichten. Dieser war verschlossen, es war auch keine Menschenseele zu entdecken. Eine Verlegenheitsspur hatte sich leider einmal mehr als aussichtslos herausgestellt. Frustrierender Alltag der Kriminalpolizei.

      Lisa und Zigerli beschlossen, zu Fuß den Rückweg zur Wache am Waisenhausplatz anzutreten. Die kühle Novemberluft würde ihren rauchenden Köpfen guttun. Es war ein ruhiger Frühwinterabend. Die einbrechende Dämmerung malte stimmungsvolle Wolkenbilder in den Berner Himmel. Gedankenverloren stapften Lisa und Zigerli der Innenstadt zu. Lisa überhörte das schwache Signal ihres Handys, als eine Kurznachricht eintraf. In demselben Moment summten auch die Mobiltelefone von Elin und Luca.

      Das Böse kam auf leisen Sohlen.

      Kapitel 18

      Berner Oberland, Balisalp, 23. November 2019, 15:05

      Er spürte, wie sich allmählich dieses erhabene Gefühl in ihm ausbreitete. Das Gefühl, für welches er die vergangenen 20 Jahre gelebt hatte. Das Gefühl, welches aus einer Mischung aus Stolz, Vorfreude, Erregung und Rachelust bestand.

      Sein Plan war perfekt aufgegangen. Alles war viel einfacher gewesen, als er es sich vorgestellt hatte. Die kleine Schlampe hatte sich ihm nach dem Sauffest regelrecht aufgedrängt. Sie hatte sich kaum gewehrt und war nie in Hysterie verfallen. Er fragte sich, ob sie seine Gegenwart womöglich sogar genoss. In ein paar Minuten würde der Spaß beginnen. Ein weiterer Schritt zur späten Genugtuung.

      Tristan saß an einem kleinen Holztisch in einer noch kleineren Küche. Sie glich eher einer Abstellkammer mit Spülbecken. Kochgelegenheit gab es keine. Wasser musste mit einem in die Jahre gekommenen Gaskocher auf dem Tisch erhitzt werden. Er befand sich in einem winzigen Chalet. Dieses lag in unmittelbarer Nähe zum Heuschober, in welchen Alva eingesperrt war.

      Vor zwei Jahren hatte er auf einer Wanderung im Gras einen Schlüssel mit einem beschrifteten Anhänger gefunden. Der Fundort befand sich in der Nähe des kleinen Holzhauses. Deshalb hatte es ihn keine große Mühe gekostet, herauszufinden, dass es sich dabei um den Hausschlüssel des Miniaturchalets handelte. Der Schlüsselfund war für ihn pures Glück. Damit besaß er das perfekte Versteck. Das Häuschen war auf einen anderen Besitzer eingetragen, weshalb es nie irgendwelche Spuren zu ihm geben würde.

      »Endlich kann ich mein schönes Feriendomizil sinnvoll nutzen«, sagte er zufrieden zu sich selbst. Tristan hatte das Handy von Alva wieder eingeschaltet und spielte damit. Er zappte sich durch Hunderte von Fotos. Aufnahmen, welche eine glückliche junge Dame zeigten. Am Strand von Chia, auf dem Torre Asinelli in Bologna, mit Freundinnen in London. Überall Lächeln und Glückseligkeit. Über ein Bild war er regelrecht gestolpert. Zuerst hatte er es sich minutenlang unter Tränen angeschaut. Schließlich hatte er es sich auf sein eigenes Handy geschickt. Das Foto zeigte Alva, Siri und Lisa am Aareufer bei einem Picknick. Juli 2019. Womöglich das letzte gemeinsame Sommerpicknick. Er musste Schluss machen. Ihm war bewusst, dass man das Handy orten konnte, wenn es eingeschaltet war. Den Stümpern bei der Polizei würde es ohnehin nicht groß helfen. Bis hier jemand auftauchen würde, wäre er längst über alle Berge. Weit weg.

      Alva hörte, wie sich Schritte der Hütte näherten. Seine Schritte. Inzwischen kannte sie seinen Gang. Es war ein unregelmäßiger Gang. Sie hatte bemerkt, dass er leicht hinkte. Es schien, dass etwas mit seinem linken Bein nicht in Ordnung war. Vielleicht von einer früheren Verletzung oder einem Unfall?

      Alva war zwar noch nicht einmal 24 Stunden in Gefangenschaft. Diese fühlten sich aber – vielleicht wegen dem fehlenden Schlaf – wie eine Ewigkeit an. Die vergangenen zwei Stunden hatte sie an nichts anderes als an eine Fluchtmöglichkeit gedacht. Erst kurz bevor er zurückkam, hatte sie einen Einfall. Hoffnung keimte auf – vielleicht die letzte Chance?

      Kurz nachdem sie merkte, dass er zur Hütte kam, war Alva zur Hüttenwand gerobbt und hatte sich mit dem kleinen Metallteil, welches dort in der Holzwand steckte, an der Innenseite des Unterarms eine Wunde zugefügt. Diese blutete ziemlich stark, und sie brannte. Kurz darauf wurde die Tür aufgestoßen, und er trat in ihr Gefängnis. Augenblicklich realisierte er, dass etwas nicht stimmte. Der Grund war nicht zu übersehen. Alvas gesamter rechter Arm war blutüberströmt. Am Boden hatte sich bereits eine kleine Blutlache gebildet.

      Alva hoffte, dass ihr Peiniger ihre Wunde zumindest notdürftig verarzten würde. Dazu müsste er ihre Handfesseln lösen, um an die Wunde zu gelangen. Das wäre ihre Chance, ihre kleine Chance.

      Alvas Verletzung schien ihn nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil, wieder zeigte sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht. Er konnte sein Glück kaum fassen. Die doofe Zicke half ihm, sein Schauspiel noch besser werden zu lassen.

      Wegen dem Knebel konnte Alava nicht sprechen. Ihr Blick flehte aber geradezu um Hilfe. Noch während Alva ihren verzweifelten, stummen Appell an ihn richtete, sah sie in seinen Augen, dass er ihr nicht helfen würde. Keine Chance. Er hatte inzwischen festgestellt, dass Alvas Wunde kaum noch blutete. Die Blutung würde bald komplett aufhören, auch ohne Verarztung. Alva bot einen erbärmlichen Anblick. Mittlerweile waren ihre Kleider und ihr Gesicht überall mit Blut verschmiert. Obwohl die Verletzung nicht bedrohlich war, sah Alva aus wie eine Schwerverletzte.

      Er

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