Das Schweigen der Aare. André Schmutz
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Читать онлайн книгу Das Schweigen der Aare - André Schmutz страница 13
Weshalb zermartere ich mir die ganze Zeit den Kopf, wie ich am besten von hier abhauen könnte?, fragte sich Alva. Einfach raus hier!
Sie könnte Sophia später von zu Hause eine kurze SMS senden und ihr mitteilen, dass sie urplötzlich höllische Kopfschmerzen bekommen hätte.
Ein paar Minuten später war Alva die zahlreichen Stufen des Eventlokals hinuntergeeilt und unten an der Pulverstraße angekommen. Sie überlegte sich, ob sie zu Fuß nach Hause gehen oder an der angrenzenden Worblentalstraße auf einen Bus warten sollte. Der Antisportler in ihr setzte sich durch. Alva machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Kurz vor dem Ende der Pulverstraße hielt unvermittelt ein Auto neben ihr. Genauer gesagt ein grauer Ford Kuga-Allroad.
Durch das offene Autofenster hörte Alva eine Männerstimme:
»Falls Sie auch Richtung Innenstadt unterwegs sind, können Sie gerne ein Stück mit mir mitfahren.« Alva war vom unerwarteten Angebot völlig überrumpelt. Es kam von einem unsympathischen Typen. Alva schätzte den Mann auf 55 bis 60 Jahre. Natürlich werde ich nicht zu diesem ungepflegten Unbekannten ins Auto steigen, erst recht nicht mitten in der Nacht, waren ihre spontanen Gedanken. Ihre depressive Stimmung und die bleierne Müdigkeit einerseits und die ruhige, unaufdringliche Art des Fremden andererseits ließen Alva dennoch zögern. Wenn sie mitfahren würde, wäre sie in wenigen Minuten zu Hause im warmen Bett. Verlockend.
»Gerne! Wenn ich bis zum Viktoriaplatz mitfahren könnte, wäre dies super nett«, hörte sie sich antworten.
»Ich fahre dort vorbei. Steigen Sie ein.« Mit diesen Worten öffnete der Unbekannte die Tür zum Beifahrersitz. Beim Einsteigen verspürte Alva ein mulmiges Gefühl. Die Aussicht, in ein paar wenigen Minuten zu Hause zu sein, beruhigte sie jedoch wieder. Der Fremde entpuppte sich zum Glück als schweigsamer Zeitgenosse. Keine Anmache, nicht einmal ein Ansatz von Small Talk. Genau das Richtige für Alva.
Sie befanden sich auf der Tiefenaustraße und fuhren in Richtung Innenstadt, als sich Alva ihren Fahrer ein bisschen näher anschaute. Der Mann war keine Schönheit. Er hatte schütteres schlecht gepflegtes, strähniges Haar. Die harten Gesichtszüge gaben dem Fremden einen verbitterten Ausdruck. Alva fragte sich, was der Grund dafür sein könnte. Waren es Schicksalsschläge, übertriebener Ehrgeiz oder vielleicht tiefgründige Frustration? Während sie über die Psyche ihres Fahrers nachdachte, merkte sie nicht, dass sie nicht mehr Richtung Innenstadt unterwegs waren, sondern auf der Autobahn A6 in Richtung Thun. Erst die kleinen Lichter der Landebahn des Flughafens Bern-Belp sagten Alva, dass etwas nicht stimmte.
»Wo fahren Sie hin? Hätten wir nicht bei der Ausfahrt Wankdorf die Autobahn verlassen müssen, um zum Viktoriaplatz zu gelangen?«, erkundigte sich Alva.
Sie erhielt keine Antwort. Ein kurzes stummes Lächeln war alles, was sie dem Fremden als Reaktion auf ihre Frage entlocken konnte. Alva war mit einem Mal klar, dass sie einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Sie spürte, wie sich Panik wie eine dunkle Gewitterwolke in ihr ausbreitete. Ihr Bauch verkrampfte sich, und in ihrem Hals wuchs ein Kloß, der immer größer wurde.
»Bitte halten Sie an und lassen Sie mich aussteigen«, bettelte Alva. Zu ihrer Überraschung verließ der Mann kurz darauf bei der Ausfahrt Kiesen die Autobahn.
Alva schöpfte Hoffnung, dass alles gut werden würde. Vielleicht hatte sie den Teufel doch zu früh an die Wand gemalt. Wenig später rumpelte das Auto über einen kleinen unbefestigten Parkplatz und hielt hinter einer Abfallmulde. Dann ging alles sehr schnell.
Alva wollte mit einem kurzen »Danke« einfach aus dem Auto stürmen. Der Fremde hatte einen anderen Plan. Das Auto war noch nicht völlig zum Stillstand gekommen, als er sich zu Alva umdrehte und sie mit seinem rechten Arm in den Sitz drückte. In der linken Hand schwenkte er ein kleines Seil. Bevor Alva reagieren konnte, war er über ihr und presste sie mit seinem Gewicht fest in den Beifahrersitz. Er hatte nun beide Hände frei. Alva konnte sich keinen Millimeter bewegen, geschweige denn zur Wehr setzen. Es war für ihn ein leichtes Spiel, Alva zu fesseln und ihr die Augen mit einem Tuch zu verbinden. Schließlich stopfte er ihr einen Stofflappen in den Mund, damit sie weiter still blieb. Alva hatte nicht einmal versucht zu schreien. Sie war wie gelähmt. Geschockt.
Kurz darauf packte sie der Fremde und warf sie sich wie einen Mehlsack über die Schulter. Ein paar Sekunden später landete sie unsanft im Kofferraum des Autos. Als er diesen verschloss, wurde das Schwarz vor ihren Augen noch schwärzer.
Kurz darauf setzte sich das Fahrzeug wieder in Bewegung. Nach ein paar Minuten wurde das Motorengeräusch regelmäßiger. Alva nahm an, dass sie sich wieder auf der Autobahn befanden.
Wohin würde er mit ihr fahren? Und was würde sie dort erwarten?, begann sich Alva zu ängstigen. Etwas in ihrem Inneren riet ihr, nicht in Mutlosigkeit zu verfallen. Sie musste jetzt kämpfen. Dabei dachte sie fast augenblicklich an ihre ältere Schwester Lisa. Lisa würde wahrscheinlich nie in eine solche Situation geraten. Und wenn doch, dann würde sie sich wehren – bis aufs Blut.
Nach ein paar Minuten hatte sich Alva soweit beruhigt, dass sie wieder halbwegs klar denken konnte. Es war wichtig, alle Informationen über ihren Peiniger zusammenzutragen.
Was wusste sie über ihn? Nichts. Fast nichts.
Sie kannte sein Gesicht und sein ungefähres Alter. Daneben besaß der Fremde zwei weitere Auffälligkeiten. Erstens: Das rechte Ohr glich einem Blumenkohl. Alva erinnerte es auch an ein bösartiges Geschwür. Zweitens: Der Fremde stank nach Alkohol. Als er sie fesselte, roch sie seinen süßlichen Atem. Sogar im Kofferraum konnte sie seine unangenehme Ausdünstung riechen. Sie betete, dass sie sich nicht in den Knebel übergeben musste.
3 »Bärner Müntschi»: Berner Kuss
Kapitel 15
Bern, Altenberg, 23. November 2019, 07:35
Luca hatte wieder eine böse Nacht hinter sich. Seine Albträume hatten ihn über Stunden gemartert. Als er gegen Morgen endlich in einen unruhigen Schlaf verfiel, wurde er durch das leise Schluchzen von Elin geweckt. Sie kämpfte mit dem Schmerz, welcher der Tod von Siri in die Familie Manaresi gebracht hatte. Luca spürte, wie auch ihm Tränen in die müden Augen stiegen. Damit war das Thema Schlaf für eine weitere Nacht erledigt.
Als kurze Zeit später der Wecker mit schadenfrohem Gebrüll den Tag einläutete, hatte Luca das Gefühl, dass seine Arme und Beine über eine Streckbank gezogen worden waren. Besonders die Schmerzen in seiner rechten Hand waren derart stark, wie er sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Als Jugendlicher hatte Luca in seiner Heimat einen schlimmen Unfall mit der Pizzateigmaschine seines Onkels gehabt. Bei einer Mutprobe mit Freunden hatte ihm der Knethacken die Mittelhand- und Handwurzelknochen seiner rechten Hand zertrümmert. Die Chirurgen am Ospedale Maggiore in Bologna konnten zwar die Hand retten, aber als Folge erinnerten ihn regelmäßig wiederkehrende Schmerzen an seine damalige Dummheit. Seit diesem Unfall hasste Luca Pizza. Bereits der Anblick von Pizzateig konnte bei ihm einen Brechreiz auslösen.
Obwohl sich Luca elend fühlte, fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er vor ein paar Tagen in der Zeitung eine Spur, womöglich sogar die Ursache für seine qualvollen Albträume entdeckt hatte. Er musste dringend mit den Ärzten darüber sprechen.